Dnachrichten.de
Berlin news - Die offizielle Website der Stadt Berlin. Interessante Informationen für alle Berlinerinnen, Berliner und Touristen.

Tierischer Essay : Eine Ratte erklärt die Welt

Die Geschichte der Menschheit lässt sich am besten von unten erzählen – aus der Perspektive der stummen Mehrheit. Ein tierischer Essay über Kosmopoliten, Opportunisten und Allesfresser.

Tierischer Essay : Eine Ratte erklärt die Welt

Der Bayreuther „Ratten-Lohengrin“ von Hans Neuenfels mauserte sich vom Skandalstück zum kultigen Klassiker.Foto: Nicolas Armer/dpa

Schreiben heißt aus dem Schatten treten. Schreiben heißt, seine Perspektive auf die Welt zu behaupten. Aber die absolute Mehrheit der Bewohner dieses Planeten ist noch immer stumm, und niemandem fällt das auf?

Eine einzige bedenkliche Tierart okkupiert das Amt des Autors auf Erden, die dritte Schimpansenart. Genauer: die kindliche Version eines Schimpansen, der Mensch. Der Anthropologe Albert Naef bemerkte schon 1926, dass erwachsene Affen der Gattung homo sapiens sapiens mehr Ähnlichkeit mit einem sehr jugendlichen Schimpansen haben. Viele haben das seitdem bestätigt. Ein juveniler Affe also mit Alleinvertretungsanspruch, der neuerdings in jeden Satz, den er spricht, das Wort Diversität einfügt. Aber was weiß der von Diversität, von der Vielzahl der Stimmen? Er hört doch immer nur seine eigene.

Niemand hält diesem entlaufenen Primaten den Spiegel vor. Früher war Gott diese Instanz. Das Amt ist inzwischen weitgehend verwaist, wegen mutmaßlicher Nichtexistenz des Spiegelhalters, sagen manche. Schimpansenhirne neigen zu den aberwitzigsten Schöpfungen. Und dann zerplatzen diese wie Seifenblasen, siehe Gott. Doch das Amt ist wichtig. Das erfolgreichste Säugetier auf Erden könnte diese Vakanz übernehmen, als Bevollmächtigter der übrigen Tierheit. Es wäre konsequent. Die Schöpfung geschah von unten, nicht von oben, deshalb sagen die meisten heute auch Evolution.

Von unten also. Das ist in jeder Hinsicht konsequent. Niemand weiß, ob es Götter gibt, aber jeder weiß: Es gibt Ratten. Das erfolgreichste Säugetier ist nicht der Mensch, es ist die Ratte. Unser fern-naher Urbegleiter. Mensch und Ratte sind Kosmopoliten, Opportunisten und Allesfresser. Beide sind spezialisiert darauf, nicht spezialisiert zu sein. Die Ratte ist das einzige Tier, das es mit uns aufnehmen kann.

Der nötige fremde Blick des Nagetiers

Traditionell zur Fauna der Hölle gezählt, hat das Nagetier den nötigen fremden Blick und teilt mit uns zugleich eine jahrtausendealte gemeinsame Vergangenheit. Die Ratte ist alles, was auch wir sind: Landratte, Wasserratte, miese Ratte, Kanalratte, Leseratte, Laborratte, Begleitratte … Es liegt auf der Hand, dass eine Leseratte vom Amt des Autors weiß. Rattus Rattus, was für ein Autorenname!

Wer Rattus Rattus eine Kulturgeschichte von unten schreiben lässt, muss sich zur Ich-Form bekennen. Es ist eine Frage der Autorenehre. Die Ansprache ist auch viel direkter: „Zum Tier hat es nicht gereicht, da wurdet ihr Mensch, ist es nicht so? Der homo sapiens, was für ein gefährlicher Irrläufer der Evolution. Aber ich will nicht ungerecht sein, denn wir teilen den Tisch mit euch, genauer, wir sitzen darunter. Wir sind eure Nächsten.“

Außer dem Hund hat keine Tierart ihre Sache so sehr auf den Menschen gestellt wie die Ratte. Nur weniger hündisch. „Wir sind mit euch sogar bis nach Amerika gegangen, gleich mit dem allerersten Schiff, auf der Santa Maria, das war kurz nachdem wir euch die Pest gebracht haben. Damals wart ihr noch nicht so schandhaft viele, genauer: Am Anfang der Pest 1347 wart ihr 100 Millionen in Europa, danach 30 Millionen weniger. Ihr habt uns das nie verziehen, ich weiß. Wusstet ihr, dass wir mit schuld sind am Untergang Roms? Es gibt wirklich viel zu erzählen.“

Der Untergang Roms von unten. Die Entdeckung Amerikas von unten, also aus der Perspektive der Entdeckten, der Leute von Guanahani, von Kolumbus San Salvador genannt. Das Skandalon: Sie waren nackt wie, nunja, wie die Tiere? Der Mensch ist das einzige Tier, das sich bekleidet. Doch diese textile Arroganz, diese Distanzerklärung gegenüber der übrigen Animalität hatte sich zu Kolumbus’ Zeiten längst nicht allgemein durchgesetzt. Statt immer wieder Bündnisse mit den Neuankömmlingen gegen die eigenen Nachbarn zu schließen, hätte es für die Gefundenen nur eine wirkliche Rettung gegeben, die Internationale der Nudisten: Unbekleidete aller Länder, vereinigt Euch!

Ein natürlicher Sympathisant jeder Unterschicht

Die Ratte ist der natürliche Sympathisant jeder Unterschicht. Das ist eine gute Erzählperspektive. Man weiß, die Punks ein paar Jahrhunderte später hätten sich um ein Haar die Rats genannt. Auftritt: die Begleitratte. Beginn einer großen Karriere als Haustier. Es war wohl Verwandtschaft auf den ersten Blick: Die Punks hatten kahle Köpfe, die Ratten hatten kahle Schwänze. Die Punks mochten es, rattus norvegicus in der vollbesetzten U-Bahn plötzlich aus dem Ärmel ihrer Lederjacken zu ziehen und die Mimik der Leute zu studieren.

Die Ratte ist ohne Zweifel der geborene Soziologe. Alle großen Gesellschaftsszenarios gingen bereits durch den Rattenversuch: „Universum 25“ hieß in den 1970er Jahren das bekannteste Experiment zur ultimativen Überbevölkerung. Und Versuchsleiter John B. Calhoun fand den Begriff des behavioral sink, der Verhaltenssenke. Sie bezeichnet den Punkt, nach dem sich kaum ein Mitglied der Gesellschaft mehr verhält wie zuvor. Aber auch der Nachweis, dass weder Mensch noch Nager per se Suchttiere sind, gelang mit der Ratte als Modellorganismus: In ein Ratten-Paradies versetzt, ließen selbst schwer Morphiumabhängige bald jedes Rauschgift stehen. Das war Bruce K. Alexanders Rat Park.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Die Ratte als Paradiesologe: Wer traditionell zur Fauna der Hölle zählt, gar als Inkarnation des Teufels, fasst ein natürliches Interesse am Gegenpol. Der Autor erklärt das Paradies neu und die Sintflut, natürlich hat er Gewährsleute. Immerhin ist sie das einzige Tier, das Noah nicht mit auf seine Arche genommen hat, Günter Grass hat das einmal recherchiert.

Unter Menschen kursiert bis heute eine sehr vulgärdarwinistische Vorstellung von seinen Mittieren: Fressen, raufen und sich paaren. Mehr hätten diese instinktgesteuerten Triebwesen nicht vor im Leben. Es wird Zeit umzudenken. Die anthropologische Schranke wird brüchig, um nicht zu sagen: Sie existiert nicht, hat nie existiert, die Behauptung einer eigenständigen Gattung homo ist eine Fiktion. Sogar Ameisen erkennen sich im Spiegel, Ratten besitzen das Sprachgen FOXP2 und sie lachen, wenn sie spielen: „Es hört sich an wie Zwitschern. Natürlich hört ihr unser Lachen nicht, halbtaub wie ihr seid.“

Ein praktisch perfektes Lebewesen

Das Endziel der Evolution? Es ist die Ratte, wer sonst? Der Forscher R. A. Nelson erkannte schon vor Jahrzehnten, dass die Natur in der Ratte „ein praktisch perfektes Lebewesen“ hervorgebracht hat: „Es scheint fast, als ob die Natur die Ratte als ihr privilegiertestes Kind betrachtet, da sie sie mit biologischen und psycho-zerebralen Fähigkeiten ausstattete, die sie bis in unsere Zeit und vielleicht auch nach uns weiterexistieren lässt.“ Und die Krone der Zahnschöpfung ist zweifelsfrei der Nagezahn. Es wird nun kaum noch überraschen, dass auch die gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Ratte rattenförmig waren. Liefe so ein Euarchont heute vor uns über die Straße, etwa der Durlstotherium newmani, 145 Millionen Jahre alt, er würde uns kaum auffallen: eine Ratte eben.

(Von Kerstin Decker ist jetzt im Berlin Verlag das Buch erschienen: „Die Geschichte des Menschen. Von einer Ratte erzählt“, 431 S., 24 Euro)

Ein Verhaltensforscher von einem anderen Planeten, der mit einem Super-Fernrohr das Leben auf der Erde studierte, müsste zu dem Schluss kommen, dass Ratten und Menschen nächstverwandt sind. Das hat schon der Zoologe Konrad Lorenz bemerkt. Beide teilen das gleiche Sozialverhalten: unbedingte Solidarität in der Kleingruppe – von wegen Empathie sei eine menschliche Eigenschaft –, aber unversöhnliche Feindschaft gegenüber der Fremdrotte. Als Sachverständiger widmet sich der Autor ausführlich den Themen von Xenophobie und Migration. Und der Solidarität natürlich, denn gemessen an der Ratte ist der Mensch doch mehr eine asoziale Art, obwohl sein Anfangserfolg vor allem auf der Fähigkeit beruhte, „wir“ zu sagen.

Der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeld vermutete, wir haben diese Welt zwar geschaffen, sind aber nicht für sie geschaffen. Ganz anders die Ratte. Sie hat diese Welt zwar nicht geschaffen, ist aber sehr wohl für sie geschaffen.

Der Mensch ist das einzige Tier, das arbeitet. Der Mensch ist das einzige religiöse Tier. Der Mensch ist das einzige Tier, das Steuern zahlt. Der Mensch ist das einzige Tier, in dessen Welt nur eine Handvoll Exemplare unendlich viel mehr besitzen als alle anderen zusammen. Höchste Zeit für eine Interpretation dieser absonderlichen Lebensform aus der naheliegendsten aller Perspektiven: der der Tiere. Die Ratte erklärt, warum kein anderes Lebewesen auf Erden unseren Weg gegangen ist.

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

Hinterlasse eine Antwort

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.

This website uses cookies to improve your experience. We'll assume you're ok with this, but you can opt-out if you wish. Accept Read More

Privacy & Cookies Policy