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Ror Wolf zum 90 : Pilzer, Pelzer, Fußball

Zum 90. Geburtstag des großen, 2020 verstorbenen Schriftstellers Ror Wolf erscheint dessen Tagebuchband “Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie”.

Ror Wolf zum 90 : Pilzer, Pelzer, Fußball

Heute, den 29. Juni 2022 wäre er 90 Jahre alt geworden: Der Schriftsteller Ror Wolf. Er starb am 17.02.2020.Foto: Uwe Anspach/dpa

Tagebücher dienen oft der Erlebnishygiene. Unerfreuliche Ereignisse werden aufgeschrieben, als wären sie damit gebannt und erledigt. So hat der Tagebuchschreiber Thomas Mann am Abend innerlich aufgeräumt, und so notiert auch Ror Wolf vor allem das, was belastet und den glatten Tagesablauf ins Stocken bringt, etwa wenn er sich an einem Sauerkrautdosendeckel fast den Finger abschneidet und im Krankenhaus behandelt werden muss.

Oder wenn er, in der Einflugschneise des Frankfurter Flughafens lebend, unter Lärm leidet: „Ungeheure Urlaubsfliegerschwärme. Schmeißfliegenartig. Herabfließendes Kerosin.“ Frankfurt selbst ist ihm „eine fette Bedrohung, eine riesige Fäkalie“, West-Berlin findet er immer „provinzieller“ und „großschnäuziger“; er vergleicht die Mauerstadt mit einer „breitgedrückten kalten Kartoffel“.

Das „Tagebuch 1964-1996“ ist die wichtigste und überraschendste Veröffentlichung zu Ror Wolfs 90. Geburtstag. (“Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie”. Tagebücher 1964-1996, hg. v. Klaus Schöffling, Schöffling Verlag, Frankfurt 2022, 344 S., 32 €.)

Ein großer Teil der Aufzeichnungen ist dem Tagesgeschäft des Schriftstellers und Collage-Künstlers gewidmet: Radiotermine, Lesungen, Literaturbetriebsnachrichten, Autorentreffen, Preisverleihungen.

Bald aber drängen sich andere Themen mächtig dazwischen. Allem voran: das Wohn-Unglück. Die menschliche Unbehaustheit in der Welt – dieses philosophische Motiv wird bei Ror Wolf sehr konkret und existentiell. Wieder und wieder zieht er um und gerät auf dem „vergangsterten Wohnungsmarkt“ von einer Katastrophe in die nächste.

“Klosett rauscht am Sessel vorbei”

Eindringlich wird die Hochhaushölle von Mainz-Gonsenheim beschrieben, die ihm das Jahr 1977 verdirbt. Über ihm wohnt ein Herr Trost, der „nach Herzenslust bohrt und hämmert, vor allem Nachts“. Feuer brechen aus im amerikanischen Teil des Wohnkomplexes, ringsum sind US-Truppen stationiert, Panzer dröhnen, knatternde Nahkampfübungen finden statt.

In Zornheim-Nord bewohnt er mit seiner Frau 1982 ein abgelegenes Haus, das „für Einbrüche besonders geeignet“ ist. Die Heizungen stinken, das Regenwasser rinnt in die Zimmer, die Außenverkleidung fällt herunter, das „Klosett rauscht am Sessel vorbei“.

Im verwahrlosten Garten gedeihen die Insekten prächtig: „Die Mücken sind so stark und böse, dass sie einen ausgewachsenen Mann mit einem einzigen Stich an den Rand des Ruins zu bringen vermögen.“ Nicht leicht, Nachmieter zu finden für diese Bruchbude. Der einzige Interessent ergreift die Flucht: „Er habe noch nie etwas derart Scheußliches angeboten bekommen.“

Immer wieder macht sich in den Tagebuchnotaten die Neigung zum Kafkaesken und leicht Surrealen geltend, die bereits für Wolfs frühe Prosa kennzeichnend war. Bücher wie „Fortsetzung des Berichts“ verweigerten sich den geläufigen Sinnerwartungen und epischen Handlungsbögen, die bis auf weiteres unter dem Druck der Moderne zusammen­gebrochen waren.

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Wolf montierte Beschreibungen, Redensarten, Wortschwälle und Gebrauchtexte – Spracharbeit im Sinn der sechziger Jahre, die noch experimentelle Strenge atmeten, bevor der Avantgarde in den Siebzigern allmählich die Luft ausging und sich auch Wolfs Prosabücher wie „Pilzer und Pelzer“ nur noch schlecht verkauften. Der Autor haderte indes mit seiner Betreuung durch Suhrkamp.

Verlagschef Siegfried Unseld konterte: „Ihr Vorwurf ist der alte, klassische: Die Bücher eines Autors gehen nicht, und schuld ist der Verlag.“ Wolfs Werke träfen den Nerv mancher Kritiker, aber nicht den des Publikums. Der verärgerte Schriftsteller zeichnet Unseld im Tagebuch als Gewinnertypen, der Misserfolg für „Charakterschwäche“ oder „eine unanständige Krankheit“ hält.

Geboren wurde er als Richard Georg Wolf 1932 im thüringischen Saalfeld. Wegen seiner bürgerlichen Herkunft verweigerte man ihm in der DDR einen Studienplatz. Er arbeitete als Betonbauer und Eisenbieger, bis er 1953 in die Bundesrepublik übersiedelte. In die DDR reist er nur noch zur Beerdigung der Eltern.

1984 notierte er dabei spezifische Eindrücke vom Niedergang des realen Sozialismus: „Der hiesige Wurstverfall ist außerordentlich… Das Fleisch schmeckt hier so, als sei es bereits im Verfaulen, man rechnet eigentlich immer mit etwas Furchtbaren nach dem Essen… Die Torte schmeckt nach Brathering.“ Die subtile Groteskkomik, die Ror Wolfs Werke auszeichnet – sie scheint im Tagebuch der widerspenstigen Realität selbst anzuhaften.

Der junge Wolf war früh schon eigensinnig

Reizvoll sind die biographischen Schlaglichter auf einen Autor, der sonst dazu neigte, seine Lebensspuren zu verwischen. Wenn er den Blick auf seine Herkunftswelt richtet, zeigt sich das Bild einer durch Krieg und DDR-Haft beschädigten Familie: „Eines Tages kam meine Mutter aus dem Gefängnis zurück; sie redete nicht mehr sehr viel, saß viel im Sessel oder stand ratlos im Badezimmer. Und dann tauchte mein Vater auf, den ich jahrelang nicht gesehen hatte, mit kahlgeschorenem Kopf und einer wattierten Jacke. Und alle drei saßen wir da und wussten nicht, was wir sagen sollten.“

Der junge Wolf ging früh eigensinnige Wege: „Nachts bin ich über die Dächer gekrochen, am Schnarchen der Nachbarn vorbei bis an die Stelle, wo die Welt mit Brettern vernagelt war.“ Was für ein wunderbarer Satz! Die Formulierungskunst macht die Lektüre der Tagebuch-Jeremiaden zum Vergnügen. „Morgens Müllgefühl“ oder „Krankenwagen-Wetter“ – dergleichen merkt man sich für gelegentlichen Eigenbedarf. Immer wieder wächst Poesie aus den trockenen Eintragungen heraus: „Ein bordellfarbener Himmel… schöner mürrischer Regen.“

Im Tagebuch ist zudem eine unbekannte, affärenfreudige Seite des Autors zu entdecken. Am ausführlichsten schildert er das wechselhafte, von der Lust am gegenseitigen Verletzen geprägte Verhältnis mit einer Frau E. Gemeinsam gehen sie auf Reisen, verbringen Nächte in Hotels.

Angesichts der starken Szenen mit subtilen Beobachtungen und scharfkantigen Formulierungen bedauert man, dass Wolf nie einen Liebesroman in diesem „schwülkühlen“ Stil geschrieben hat. Material dazu hätte er gehabt.

Dem Fußball Poesie abgewonnen

Kaum Niederschlag finden dagegen die epochalen politischen Ereignisse. Am Tag des Mauerfalls stellt der Autor nur lakonisch fest, dass dieses Ereignis jetzt wohl in Abermillionen Tagebüchern notiert würde. Gelegentlich wird die Lektüre einer Zeitung vermeldet, aber nur dann, wenn darin eines seiner Bücher rezensiert wird.

Immerhin: die Lebenszufriedenheit wächst mit dem Älterwerden. 1993 attestiert er sich ein „nahezu ausgeglichenes Gemütsleben“. Sicher liegt es auch daran, dass seine schriftstellerische Erfolgskurve steigt, er hat Fans, bekommt Preise, die Kritik beachtet ihn. 1988 wird zum „finanziell besten Jahr meines Autorenlebens“.

Das hat allerdings auch unliebsame Konsequenzen: „Brief vom Steuerberater. Nachzahlung etwa 16000 Mark. Es ist völlig unsinnig in diesem Land zu arbeiten. Man übergebe sich einfach der Fürsorge und fahre in den Süden.“  

Das meiste Geld haben ihm die Hörspiele eingebracht. „Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nord-Amerika“ gilt als das meistgesendete Hörspiel der Bundesrepublik. Die Liebe zum Jazz war für Wolf ein Votum für die Populärkultur: „Coltrane statt Karajan.“ Und: „Fußball statt Oper.“

Eine Biografie von Jan Wilm gibt es auch

Wie kein anderer Autor hat er dem Ballsport Poesie abgewonnen, etwa in den legendären „Rammer & Brecher Sonetten“. Das Tagebuch verzeichnet mehrfach Begegnungen mit Jürgen Grabowski, dem legendären Mittelfeldspieler von Eintracht Frankfurt. Wolf selbst hat der Fußball allerdings wenig Glück gebracht. 1977 versuchte er sich bei einem Literaten-Freundschaftsspiel als Torwart und zog sich prompt eine schwere Verletzung zu.

Ror Wolfs Gesamtwerk ist zugleich monoman und von erstaunlicher Vielfalt. Die zahlreichen Balladen und Moritaten sind in der Neuauflage der Gesammelten Gedichte zu genießen. Sie mischen das Fatale à la Wilhelm Busch mit Loriots Knigge-Ton und dadaistischen Anwandlungen.

Für Jan Wilm, der zum 90. Geburtstag eine inspirierte, angenehm unakademische Einladung zur Ror Wolf-Lektüre geschrieben hat, (Schöffling Verlag, Frankfurt/Main 2022, 190 Seiten, 23 €.) ist das Prinzip der Collage über die rein bildnerischen Werke hinaus das grundlegende ästhetische Verfahren auch der Prosa, Hörspiele und Gedichte.

Das Zusammenschneiden und Nebeneinanderstellen von Unzusammenhängendem ist eine zugleich destruierende und konstruktive Methode. Wolfs Alter Ego Raoul Tranchirer trägt das Zerschneidende ja schon im Namen. Eine andere Qualität ist aber ebenso grundlegend: der Humor, mit dem Ror Wolf die Welt als Vielfalt von Sprachspielen in Szene setzt. Die Freiheit des Schriftstellers besteht darin, deren Regeln zu bestimmen.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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