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Pop und Politik in den Achtzigern : Als die Grünen laufen lernten

Zwischen Punk, Aerobic und Glottertal: Der Popkritiker Jens Balzer porträtiert in seinem Buch „High Energy“ die achtziger Jahre.

Pop und Politik in den Achtzigern : Als die Grünen laufen lernten

Die Arzt-Familie Brinkmann aus der „Schwarzwaldklinik“ war ihrer Zeit weit voraus.Foto: picture alliance / dpa

Gut möglich, dass die achtziger Jahre erst am 10. Oktober 1981 in Bonn begannen. 300 000 Menschen fanden sich damals im Hofgarten der damaligen Bundeshauptstadt ein, um für den Frieden und gegen den NATO-Doppelbeschluss zu demonstrieren. Oder war es der Gründungsparteitag der Grünen am 12. und 13. Januar 1980 in Karlsruhe und die Bundestagswahl im Oktober desselben Jahres, die der so jungen Partei nur enttäuschende 1,5 Prozent der Stimmen bescherte?

Es ist nie einfach, Beginn und Abschluss einer Dekade genau zu bestimmen (endeten die Achtziger nicht erst 1995, mit Christian Krachts Debütroman „Faserland“?) – doch braucht es markante Ereignisse, die ein Jahrzehnt definieren, die den Fluss der Zeit stauen oder wenigstens kanalisieren.

Der Berliner Kulturjournalist Jens Balzer beginnt sein Buch über die achtziger Jahre mit eben jener Hofgarten-Demo und der Gründung der Grünen. Das liegt insofern nahe, als dass beide Ereignisse die Stimmungslage (Angst! Vor einem Dritten Weltkrieg, Radioaktivität, Waldsterben!) und die gesellschaftlich-politischen Veränderungen (die 68er in den Institutionen) gut treffen.

Das Schöne ist, dass Balzer sich damit gar nicht lange aufhält, weil es nahezu genauso wichtig war, wie die Grünen und die anderen Friedensbewegten aussahen und was für Outfits sie trugen: Schlabberpullis, Palästinensertücher, Latzhosen, dazu die Rauschebärte bei den Männern oder die Selbstgedrehten. So unternimmt Balzer, bevor er in medias res geht, erstmal eine Typenkunde und beschäftigt sich nach den Ökos und Späthippies auch mit den Punks, Gruftis und Poppern, die die achtziger Jahre styletechnisch ebenfalls prägten.

Beschäftigung mit dem eigenen Körper

In der Folge merkt man dann, wie vielfältig dieses Jahrzehnt war, und zwar nicht nur in der Popmusik, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen. In den achtziger Jahren begann beispielsweise die Intensivstbeschäftigung mit eigenen und fremden Körpern, vom Aerobic bis zum Joggen, von Jane Fonda als Vorturnerin bis zu Arnold Schwarzenegger als Terminator.

Das wiederum führt Balzer zu der Erfindung der Gender Studies, zu Judith Butler und der Konstruktion des kulturellen Geschlechts. Und es kamen der Videorecorder, der Walkman und die ersten Computer auf den Markt, allesamt entscheidende technische Neuerungen. Kurzum: die Wiege der Digitalisierung, wie wie sie heute kennen.

Oder die veränderten Familienstrukturen nach den Eruptionen und sexuellen Befreiungen in den sechziger und siebziger Jahren. Helmut Kohl war zwar 1982/83 angetreten, eine „geistig-moralische Wende“ herbeizuführen und die Familie als Keimzelle der Gesellschaft zu stärken, aber es gab da ja schon die sogenannten Patchwork-Familien.

Pop und Politik in den Achtzigern : Als die Grünen laufen lernten

Der Popjournalist Jens Balzer.Foto: Horst Ossinger/dpa

Wie die medial repräsentiert wurden, erzählt Jens Balzer ganz wunderbar und nur halb süffisant mittels zwei der populärsten Serien jener Zeit: „Ich heirate eine Familie“ und „Schwarzwaldklinik.“ Ohne moralische Urteile sei das Drehbuch der „Schwarzwaldklinik“ gewesen, schreibt Balzer und schließt die Serie kurz mit Ulrich Becks Buch „Risikogesellschaft“. Der Soziologe Beck prägte mit diesem Titel einen der nachhaltigsten Begriffe jener Zeit; bezüglich der veränderten Familienverhältnisse sprach er von einer „neuen Unübersichtlichkeit“.

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Durch die Jahre mit Deleuze und Michael Jackson

In der Folge widmet Balzer sich der multikulturellen Gesellschaft, die freilich noch nicht so genannt wurde, dem Aufkommen von Aids oder mit dem Erinnerungserdbeben der US-Serie „Holocaust“; er nimmt sich Michel Foucault, Gilles Deleuze oder Michael Jackson als Gewährsleute und analysiert klug, unterhaltsam und frei von Nostalgie (das Foto von ihm als 18-jährigem Gruftie sei ihm nachgesehen), wie dieses Jahrzehnt die Individualisierung forcierte und die Grundlagen für die folgenden Dekaden schafft.

Im Grunde blickt er mit den Erkenntnissen der Jetztzeit, etwa denen des Soziologen Andreas Reckwitz, und dem Debattenfundus unserer Zeit auf die Achtziger – ohne auf so lustige Ausflüge wie eine Getränkekunde zu verzichten.

(Jens Balzer: High Energy. Die Achtziger – das pulsierende Jahrzehnt. Rowohlt Berlin, Berlin 2021. 400 Seiten, 28 €.)

Natürlich ist es pure Ironie, dass in einer Dekade, in der so viel von der „Wende“ die Rede war, diese tatsächlich kommt, allerdings eine von „planetarischem Ausmaß“, wie Balzer es formuliert, die keiner nur im entferntesten ahnen konnte oder wollte: In Form des Falls der Mauer, des Eisernen Vorhangs.

Dass dahinter die achtziger Jahre etwas anders aussahen, blendet Balzer aus. Das mag ein Manko seines Buches sein, doch fehlt es ihm halt mit seiner westdeutschen Sozialisation an eigener Anschauung. Die damalige Zeit, resümiert er, habe „sich selber ebenso grundlegend verkannt wie ihre Zukunft“. Doch so sehr die Achtziger bis heute nachwirken: Am 9. November 1989 waren sie definitiv zu Ende – und die Geschichte konnte vorn vorn losgehen.

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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