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Lutz Seilers “Schrift für blinde Riesen” : Lieder aus dem Kieferngewölbe

Im Vertrauen auf die Sprachmagie: Lutz Seiler ruft in seinem neuen Gedichtband “Schrift für blinde Riesen” eine versunkene Vergangenheit auf.

Lutz Seilers "Schrift für blinde Riesen" : Lieder aus dem Kieferngewölbe

Der Schriftsteller Lutz SeilerFoto: Hendrik Schmidt/dpa

Die mythische Gestalt des Achaemenides gehört nicht zu den Siegern der Geschichte. Ovid rechnet ihn in seinen „Metamorphosen“ zu den Gefährten des Odysseus, der ihm bei der Blendung des Riesen Polyphem zur Seite stand. Während aber Odysseus mit seinen Gefolgsleuten aus der Höhle des Polyphem fliehen konnte, blieb Achaemenides dort allein zurück.

In Lutz Seilers neuen Gedichten figuriert nun der von den Freunden verlassene Achaemenides als eine Art mythische Personifikation des Dichters, der im Raum der Geschichte auf sich allein gestellt ist.

In der Finsternis der Höhle beginnt der Ausgesetzte die Welt neu zu deuten: „die welt war schrift & ich / war ihre stimme“. Der „blinde Riese“ ist hier nicht mehr der Feind, sondern ein Verbündeter. Das Motiv des „blinden Riesen“ taucht noch an zwei weiteren Stellen dieses fabelhaften Gedichtbuchs auf, durchweg in identifikatorischer Absicht.

Nach seinen zwei phänomenalen Wendezeit-Romanen „Kruso“ (2014) und „Stern 111“ (2019) ist Lutz Seiler wieder zu seinem ureigenen Genre, der Lyrik, zurückgekehrt, mit der vor zwei Jahrzehnten sein literarischer Erfolgsweg begann.

“Das gute Gedicht muss eine einzige Kaskade sein”

In seiner Essays hat er oft erläutert, dass ihm das anekdotische, erzählerisch ausschweifende Gedicht wegen seiner Vorhersehbarkeit nicht liegt, sondern dass es ihm eher darum geht, Gedichte als ein empfindliches Nervensystem der Erinnerung anzulegen.

Sein Romanheld Carl Bischoff, der in „Stern 111“ vom Maurer zum Dichter wird, hat die poetische Strahlung eines Gedichts so prägnant beschrieben, dass man seine Definition auch für den Band „schrift für blinde riesen“ (Suhrkamp, Berlin 2021.112 S., 24 €.) in Anspruch nehmen kann: „Das gute Gedicht muss eine einzige Kaskade sein, ein glänzendes Strömen in jenem magischen Licht, das es immerzu selbst erzeugte.“

Es ist faszinierend, wie Seiler mit seiner poetischen Verwandlungskunst die Motive und Urszenen seiner frühen Gedichtbände wiederaufnimmt und in neue Konstellationen rückt. Die poetische Erinnerung wird hier eng verknüpft mit Geräuschen, Werkzeugen und Naturstoffen.

Wie in „Stern 111“ gibt es hier eine innige, fast religiöse Metaphysik, mit der sich das lyrische Ich Werkzeugen und haptisch greifbaren Alltagsgegenständen nähert, die als magische Objekte im Gedicht aufleuchten. Bereits das erste Kapitel entfaltet das intensive Nahverhältnis des lyrischen Ich zur sinnlichen Materialität der Stoffe und Substanzen. Programmatisch heißt es in „kindheit & weiter“: „ich sammelte dinge als hätten sie inne / das gebet“.

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Seilers poetische Architektur der Erinnerung hat ihren Ankerpunkt in einem brandenburgischen Kiefernwald. Am Westrand der Ortschaft Wilhelmshorst steht dort im Hubertusweg das Haus, das einst der Dichter Peter Huchel bewohnte und in dem Lutz Seiler seit vielen Jahren lebt.

Das „Kieferngewölbe“, das dieses Haus umgibt, hat Seiler in früheren Gedichten und Essays beschrieben. Mit „Im Kieferngewölbe“ ist nun auch das zweite Kapitel in „schrift für blinde riesen“ überschrieben – und darin entsteht ein evokativ aufgeladener Raum aus Sprachklängen, bildstarken Imaginationen und Geräuschen. Der hier apostrophierte „mann in der mark“ wandert durch einen Wald, der zur „Takelage“ eines Schiffes wird.

In anderen Gedichten hat Seiler seine thüringische Kindheitslandschaft eingezeichnet, die vom Uranbergbau versehrten Dörfer um Culmitzsch, die im Zuge der Industrialisierungspolitik der DDR verschwanden. Es sind Gedichte, in denen sich das Denken des lyrischen Ich mit dem „Ahnenapparat“ der Vorfahren verbindet wie mit den „Aschenbahnen“ und „Schlackeplätzen“ der Kindheitsabenteuer.

Seiler erinnert an den Dichter Ulrich Zieger

In einem tagträumerischen Zustand taucht Seilers lyrisches Subjekt ab in die Vergangenheit: „nichts / tröstlicher als das: statt schlafen / am fenster mit todmüden augen / noch einmal ins finstre zu lauschen“.

Die „ortsdurchfahrt culmitzsch“ weitet sich diesmal aber auch in nördliche Richtung, nach Schweden, der zweiten Heimat Seilers, die er hier erstmals poetisch topografiert. Die Insel Arholma an der schwedischen Ostseeküste wird zum neuen lyrischen Navigationspunkt, an dem der Dichter „die Haltbarkeit der Stimme“ prüft.

Auch diese Gedichte arbeiten, im inneren Dialog des Autors mit den Dingen, mit einem beschwörenden, suggestiven Sprechen, das eine versunkene Vergangenheit aufruft.

In einer Reminiszenz an den 2015 verstorbenen Dichter Ulrich Zieger, die einer mystischen Szene gleicht, deutet Seiler an, dass diese Art von poetischer Phantastik, für er und Zieger ein Faible haben, kaum noch gepflegt wird: „eines abends, winter neunzehnhundertneunzig, plötzlich: / das lichtzelt war gelandet – / es leuchtete, über dem acker, es wärmte, war gold / farbe der nabis, ein raumschiff & ich…“. In der winzigen Schar der Dichter, die noch auf Sprachmagie vertrauen, ist Lutz Seiler die auffälligste Gestalt.

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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