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Lob des Jammerlappens : Hartgekochtes Weichei

Jammern genießt keinen guten Ruf, trotzdem wollten im Jahr der Pandemie alle mal klagen. Verteidigung einer Kulturtechnik.

Lob des Jammerlappens : Hartgekochtes Weichei

Das alte Treppen-Phänomen. Für die einen scheint sie abwärts zu führen, für die anderen aufwärts.Foto: dpa

Was einen formvollendeten Jammerlappen charakterisiert, besingt der in Berlin lebende Liedermacher Gisbert zu Knyphausen in seinem Song „Spieglein, Spieglein“: „Ist es wirklich so toll, / hilflos zu sein? / Du bist so groß und machst dich selbst so seltsam klein / Du bist immer so fixiert auf das, was noch fehlt / Und jetzt schau nicht so gequält – das sieht scheiße aus…“

Als würdiger Abschluss dieses Seuchenjahres wird am 26. Dezember der „National Whiners Day“, der „Tag des Jammerlappens“, begangen. Er wurde 1986 von Kevin Zaborney initiiert. Der amerikanische Pastor war der Ansicht, dass zu viele Menschen über das klagen, was ihnen fehlt. Stattdessen sollten sie dankbarer sein, für das was sie haben – gerade nach Weihnachten. Zaborney ist übrigens auch der Erfinder des Weltknuddeltages. Während letzterer in diesem Jahr aus bekannten Gründen nicht begangen wurde, entwickelte sich das Jammern hingegen zum einzig erlaubten Breitensport im Lockdown.

Selbstverständlich gibt es sie, die notorischen Dauernörgler und Berufspessimisten, von denen Gisbert zu Knyphausen singt. Jene Menschen, die das Unglück der Welt als notwendige Realität mit jedem Aufseufzen affirmieren. Deren Mantra schon vor der Pandemie lautete: „Das Leben ist eines der härtesten“. Menschen, die lieber in Agonie verfallen, als mit Analyse und Kritik auf die Anforderungen ihrer Umwelt zu reagieren. Deren Stillstand im Selbstmitleid längst einem stummen Einverständnis mit dem Bestehenden gleichkommt.

Das Dauerklagen ist eine deutsche Eigenart

„Alles scheiße zu finden, heißt immer auch, sich für besser zu halten als die Scheiße, in der man steckt, und folglich für berufen, mächtig darin herumzuquirlen, damit es weiter mollig bleibt“, warnt der Autor Magnus Klaue. Und ja, es scheint eine spezifisch deutsche Eigenart zu sein, sich über jede Banalität zu beklagen. Deutsche Passagiere sind einer Umfrage zufolge diejenigen, die sich am meisten im Flugzeug beschweren. Der ostentativ dargebotene Vortrag vom „Leiden an der Welt“ kulminierte im Begriff der „German Angst“. Von Goethes Werther über Kafkas Josef K. bis zu Brechts Mutter Courage – alle großen deutschsprachigen Autoren erschufen ihre „Jammerlappen“.

Doch irgendwann regte sich Widerstand. Heute befinden sich demonstrativ gutgelaunte Exorzisten wie der Komiker Dieter Nuhr auf einem Kreuzzug gegen das Gejammere. Seit Jahren prangert er „einen zivilisatorischen Rückschritt unserer Gesellschaft“ an und forderte wiederholt: „Hört auf zu Jammern!“. Er sei ohnehin schon länger überzeugt, „dass der Glückszustand eher an der individuellen Psychologie und nicht so sehr an Lebensumständen festzumachen ist“.

Wohlgemerkt: das ist derselbe Mann, der in diesem Jahr den Begriff des strukturellen Rassismus ablehnte. Neben der „Neidkultur“, scheint das „Jammern“ ein Lieblingswort des reaktionären Backlashs zu sein: Nicht die schlechte Realität ist in diesem Verständnis das Problem, sondern unsere unreife Art des Umgangs mit den Gegebenheiten. Nicht die materiellen Daseinsbedingungen sind entscheidend, sondern auf die autogene Selbstdisziplinierung kommt es an. In dieser Erzählung gibt es das Lager der Mitmacher – und das der Miesmacher.

Vor wegen “die beste aller Welten”!

Schon Voltaire schrieb mit seiner Erzählung „Candide oder der Optimismus“ gegen den blinden Fortschrittsglauben der Aufklärer seiner Zeit an. Darin wird der hoffnungsfrohe Protagonist Candide auf seiner Reise um die Welt mit den Grausamkeiten des Lebens konfrontiert – Krieg, Naturkatastrophen und Armut. Der satirische Schlag Voltaires ist auch eine Klage gegen das vermeidbare menschliche Leiden und die unkritische Genügsamkeit seiner Zeitgenossen. War es einst der Philosoph Leibniz, der „die beste aller Welten“ verkündete, sind es heute die zwanghaft positiven „Freunde der Realität“, die Funny van Dannen besang: „Sie haben Tüv-Plaketten auf der Seele / Sie zahlen keinen Cent Steuern zuviel / Sie wollen, dass sich Leistung wieder lohnt / Sie sagen, nach dem Spiel ist vor dem Spiel“.

Doch Jammern ist ein zutiefst menschlicher Ausdruck. Schon unser erster Laut auf diesem Planeten ist eine Unmutsäußerung. Wer klagt, will sich meist nicht mit seiner Schwarzmalerei ins Recht setzen oder die Welt in ihrem schlechten Dasein bejahen – sondern von ihr eines Besseren belehrt werden. Auf dass diese beweisen möge, dass es auch anders sein könnte. Der Ausgangspunkt des menschlichen Denkens und Handelns ist das Leiden.

Von der französischen Revolution bis zum Arabischen Frühling galt: Geschichtlicher Fortschritt meldete sich dann an, wenn Menschen ihren Unmut artikulierten. „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit“, schreibt Theodor W. Adorno. „Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, das Leiden nicht sein, dass es anders werden solle. ,Weh sprich: vergeh’.“

Das Wegdrücken der Emotionen ist keine Alternative

Und die Geschichte hat hinlänglich bewiesen, dass nicht die, die weinen und zetern das Problem sind, sondern jene, die in ihrer Unfähigkeit zum Klagen und Trauern erstarren. Die Nationalsozialisten empörten sich über die Verweichlichung der Jugend in der Weimarer Republik. Im Wehrmachtsspruch „Klagt nicht, kämpft“ spiegelt sich das faschistische Menschenbild wider, das Sensibilität als Schwäche brandmarkt. Der soldatische Mann sollte das Weiche, Leidenschaftliche und Lebendige in sich unterjochen. Zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl. Diese gehemmte und verstümmelte Emotionalität findet sich auch bei neurechten Gewalttätern im Hass auf das „Weibliche“ wieder, der sich gegen die „Verweichlichung“ und „Feminisierung“ der Gesellschaft wendet.

Bei vielen von ihnen ist ein wiederkehrendes Muster zu erkennen: Über Jahre hinweg angestaute negative Emotionen und ein daraus resultierendes quälendes Selbstwertdefizit, was in grausamen Gewalttaten kulminiert. Nicht umsonst heißt es hinterher meist, die Täter seien „vollkommen unauffällig“ gewesen. Wer nicht jammert, kann nicht gehört werden.

Die Erziehungswissenschaftlerin Alice Miller war sogar überzeugt: „In jedem noch so schrecklichen Diktator, Massenmörder, Terroristen steckt ausnahmslos ein einst schwer gedemütigtes Kind, das nur dank der absoluten Verleugnung seiner Gefühle der totalen Ohnmacht überlebt hat.“ Die weitverbreitete Unfähigkeit im Umgang mit Emotionen spiegelt sich auch im dramatischen Anstieg psychischer Erkrankungen in jüngerer Vergangenheit wider.

Nein, der Mensch richtet sich nicht in der depressiven Jammergemütlichkeit ein, weil er sich darin wohlfühlt. Diese Ohnmacht wird ihm vermittelt. „Erlernte Hilflosigkeit“ nennen Psychologen das, wenn der Einzelne aufgrund seiner gesellschaftlichen Erfahrungen zu der Überzeugung kommt, die eigenen Fähigkeiten zur Veränderung der Lebenssituation verloren zu haben.

Jammerlappen werden nicht geboren, sondern gemacht. Und solange der Mensch seiner noch oft unbewältigten Geschichte entfremdet gegenübersteht, wird die Erde auch immer ein Stück weit ein Jammertal bleiben, in dem das Echo des Klagens widerhallt. Eines hat das Coronajahr doch gelehrt: Solange wir das Leiden verleugnen, wird es nur umso manifester. Sich diesem Leiden zu stellen, es zu seinem Recht kommen zu lassen, würde erst den Raum zu seiner Überwindung eröffnen. Bis dahin sollten wir es uns erlauben, auch mal gequält dreinzuschauen – selbst wenn wir dabei scheiße aussehen.

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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