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„Hindernis für den Bildungserfolg“ : Sinti und Roma fordern Veränderung des Schulsystems

Nur langsam verbessert sich die Lage von Sinti und Roma in Bildung und Beruf. Der Abstand zur allgemeinen Bevölkerung bleibt groß.

„Hindernis für den Bildungserfolg“ : Sinti und Roma fordern Veränderung des Schulsystems

Deutsch-Unterricht in den Sommerferien für eingewanderte Romakinder in der Berliner Eduard-Mörike-Grundschule. Manche Regelschule…Foto: Kitty Kleist-Heinrich

Ob ein Glas halb gefüllt oder halb leer ist, ist bekanntlich eine Frage des Blickwinkels, wahr ist beides. Ähnlich verhält es sich mit dem Blick auf die traditionell schlechten Lebensbedingungen von Sinti und Roma – auch in Deutschland und besonders, was ihre Rolle im Bildungssystem angeht. Die Minderheit selbst hat sich der Sache bereits vor zehn Jahren angenommen, als sie eine “Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma” veröffentlichte. Ein Jahrzehnt später lässt sich feststellen: Es gab teilweise Fortschritte, doch der Abstand von Sinti und Roma zur Durchschnittsbevölkerung bleibt dramatisch.

Einer neuen zweiten Studie zufolge, die Daniel Strauß, der Vorsitzende des Landesverbands der Sinti und Roma in Baden-Württemberg, und die Autorinnen und Autoren am Mittwoch vorstellten, haben vor allem die jungen Generationen aufgeholt:

Inzwischen besuchen alle Kinder aus Sinti- oder Roma-Familien die Grundschule. 60 Prozent sind in einer Kita, was vor zehn Jahren erst für ein Viertel von ihnen zutraf. Von der jüngsten Generation besuchten sogar 15,6 % das Gymnasium (damals waren es lediglich 2,3 % der Befragten waren. Zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen verlassen inzwischen die Schule mit einem Abschluss, seinerzeit war das nicht einmal die Hälfte (47 Prozent).

“Deutlicher Zusammenhang zwischen Erwartungen der Lehrer und dem Schulerfolg”

Die andere Seite erwähnte die Forscherin Karin Cudak ebenfalls, die die Zahlen zusammen mit ihrem Kollegen Iulius Rostas erhoben hat: Das heiße im Umkehrschluss eben nicht nur, dass nach wie vor ein Drittel ohne Abschlusszeugnis sei, wenn sie die Schule verließen.

Auch wenn sich das Problem in der jüngsten Generation weiter auf 14,9 Prozent verringert habe: Man müsse auch auf den erheblichen Abstand zur allgemeinen Bevölkerung schauen. Der liege dort nur halb so hoch , nämlich bei sieben Prozent. “Die Differenz ist immer noch sehr groß”, so Cudak.

Und sie gelte für praktisch jede Stufe des Bildungs- und Ausbildungssystems: Den 15 Prozent Gymnasiastinnen und Gymnasiasten stünden 40 Prozent in der Gesamtbevölkerung gegenüber, auch bei den mittleren Schulabschlüssen trennen 24 Prozentpunkte den Durchschnitt aller Jugendlichen von den Altersgenossen aus Sinti- und Roma-Familien. 37 Prozent haben eine Berufsausbildung mit Erfolg absolviert. Das ist eine enorme Steigerung verglichen mit einer Untersuchung von 1982 (6 Prozent) und der von 2011 (18,8) – aber eine deprimierende Zahl, wenn man auch sie mit dem Bevölkerungsschnitt vergleicht: Hier haben 90 Prozent einen Berufsabschluss.

Die Gesamtgesellschaft strebe “immer rasanter in Richtung Aufwärtsmobilität und höherer Bildung”, schreiben Cudak und Rostas. “Dies führt im Ergebnis dazu, dass der Abstand zwischen der durchschnittlichen Bildungsbeteiligung der Minderheit und der bundesweiten Bevölkerung weiter zunimmt.” Da einzelne Daten bei Kindern aus migrantischen Familien ähnlich seien, müsse man folgern, dass es vor allem das deutsche Bildungssystem sei, das ihrem Erfolg entgegenstehe.

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Zwar anerkennt die Studie ausdrücklich, dass die deutsche Schule in den letzten Jahren durchlässiger geworden ist. Daniel Strauß nannte es dennoch einen “zentralen Befund”, dass sie Veränderung brauche und vor allem “Lehrkräfte durch gezielte aus- und Fortbildung so geschult werden, dass sie den Bildungserfolg von Kindern der Minderheit fördern”. Gerade die Schule erlebten sie und ihre Familien als Ort der Herabsetzung. 60 Prozent leiden darunter, 50 Prozent berichten sogar von Gewalterfahrung. “Das ist ganz eindeutig als Hindernis für den Bildungserfolg zu sehen”, sagte Strauß.

Albert Scherr, Soziologie-Professor an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und Diskriminierungsfachmann, ergänzte, es gebe einen “deutlichen Zusammenhang zwischen den Leistungserwartungen der Lehrkräfte und dem Schulerfolg.” Dabei müsse eine Lehrerin nicht einmal aktiv diskriminieren und herabsetzende Bemerkungen machen: “Es genügt schon, einer Schülerin nichts zuzutrauen.”

Rassismus ist Teil der Wissensgeschichte und der Aufklärung

Diese negative Rolle der Schule dürfte auch historische Gründe haben. An sie erinnert in der neuen Studie ein Kapitel über das rassistische “vergiftete Wissen”, das – so Autor Frank Reuter, tief in die deutsche Wissensgeschichte selbst eingeschrieben sei.

Reuter, der am Historischen Seminar der Universität Heidelberg die Forschungsstelle Antiziganismus leitet, präsentierte eine ABC-Fibel von 1799, in der “Der Zigeuner” den Buchstaben Z repräsentiert. Zu sehen ist ein bürgerliches Paar mit Kind, das einer zerlumpten Wahrsagerin gegenübersteht. Während sie den beiden aus der Hand liest, bestielt ihr Kind heimlich die Familie. Das “Buchstabir- und Lesebuch” von Johann Wolf sei ein Produkt der Aufklärung, “das Konstrukt Zigeuner aber geradezu das Gegenbild dessen, was die Aufklärung ausgemacht hat”. Was der Aufklärung verpflichtet war, sei über Sinti und Roma antiaufklärerisch gewesen.

Kritik äußerten die Macherinnen und Macher der Studie am fortdauernden Nein der Bundesregierung zu gezielter Förderung der Minderheit und ihres Erfolgs in Schule und Beruf: Erst kürzlich hatte die FDP-Fraktion mit einer Kleinen Anfrage fast wortgleich dieselbe Antwort erhalten, die Berlin schon zehn Jahre zuvor gegeben hatte: Es gebe keine Daten zu Roma und Sinti, man wolle auch nicht nach ethnischen Kriterien Daten erheben. Zudem stünden ihnen alle Förderungen zur Verfügung, die es auch für alle andern benachteiligten Gruppen gebe.

Den Betroffenen selbst die Schuld an ihrer Diskriminierung zu geben und zu argumentieren, “die sind selbst schuld, wenn sie nicht annehmen, was wir bieten” sei “schon klar ein antiziganistisches Motiv”, sagte Christoph Leucht von der Hildegard-Lagrenne-Stiftung, die als Gründung der Minderheit seit 2012 Bildung und Inklusion von Sinti und Roma fördert. Der Hinweis auf fehlende Daten sei spätestens durch die vorliegende Studie “hinfällig”, ergänzte Albert Scherr.

Womöglich sei die Verweigerung von gezielten Maßnahmen, oft unter Hinweis auf die Zuständigkeit der Länder, aber auch eher “die Reaktion auf einen gesellschaftlich verbreiteten Antiziganismus”. Dahinter könnte eine Vermeidungsstrategie der Politik stecken. Etwas gegen die Diskriminierung von Sinti und Roma zu tun, “eignet sich nicht zur Wählerbeschaffung”. Man handle sich damit womöglich “mehr Ärger als Beifall” ein.

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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