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Hendrik Bolz und sein Buch “Nullerjahre” : Nichts Schönes gab es hier

Der Zugezogen-Maskulin-Rapper Hendrik Bolz hat mit „Nullerjahre“ die Geschichte seiner Jugend in Stralsund geschrieben. Eine Begegnung in Kreuzberg.

Hendrik Bolz und sein Buch "Nullerjahre" : Nichts Schönes gab es hier

Von Knieper West ins Berliner Kulturleben. Der Rapper Hendrik Bolz. Er wurde 1988 in Leipzig geboren.Foto: Doris Spiekermann-Klaas TSP

Stark sein, nicht weinen, keine Schwäche zeigen: Hendrik Bolz scheint ein wenig das Mantra seiner Jugend verinnerlicht zu haben, als er an diesem nasskalten Januartag am Paul-Lincke-Ufer steht und wartet. Er trägt keinen Schal und bibbert dafür beim anschließenden Spaziergang am Ufer entlang, während er mit einem dezent noch zu hörenden norddeutschen Zungenschlag von seiner Jugend erzählt.

Unter dem Künstlernamen „Testo“ ist der Rapper als Teil des Hip-Hop-Duos Zugezogen Maskulin in den vergangenen zehn Jahren zu einem Unterground-Darling des sogenannten Zeckenraps geworden ist, also des politisch links stehenden Rap. 

Nun hat er sein erstes Buch geschrieben: ein Memoir, schlicht „Nullerjahre“ betitelt. (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 322 S, 20 €.) Dieses Buch ist keine branchentypische, in Zusammenarbeit mit einem Ghostwriter entstandene Aufsteigergeschichte geworden, wie zum Beispiel die Autobiografien von Bushido oder Kollegah.

Nein, Hendrik Bolz erzählt von seiner Jugend in den nuller Jahren, und zwar nicht, wie er mit Britney, MySpace und Reality-Fernsehen groß wurde, nichts von den fetten Jahren zwischen dem 11. September und der globalen Finanzkrise. Nein, Bolz betrachtet die andere Seite. Er zählt von struktureller Vernachlässigung, von Alkohol, Drogen, Gewalt und vor allem: Empathielosigkeit.

Diffuse Nachwendezeit, die “Baseballschlägerjahre”

Es ist dies eine Geschichte vom Aufwachsen unter der Prämisse der versprochenen „blühenden Landschaften“, wie es im Untertitel des Buches spöttisch heißt. Diese blühenden Landschaften lagen bei ihm in Stralsund, der pittoresken Hansestadt an der Ostsee. Unesco-Weltkulturerbe, Wallenstein-Tage, Ozeaneum: All das klingt gut, nur entsprach es nicht seiner Realität in Knieper-West, einem Stralsunder Plattenbauviertel.

Geboren wurde Bolz 1988, ein Jahr vor dem Mauerfall, direkt hinein in die neue Zeit. Der Umbruch sollte Spuren hinterlassen, die Deutschland erst allmählich beginnt als solche zu erkennen und aufzuarbeiten.

Daran hatte auch Bolz seinen Einfluss: Er verfasste 2019 einen Essay in der Wochenzeitung „Der Freitag“, der eine Debatte um die sogenannten Baseballschlägerjahre in Ostdeutschland nach sich zog. Diese Debatte handelte von der diffusen Nachwendezeit, in der die Bundesrepublik geglaubt hat, die sogenannten neuen Länder allein mit Geld und Ignoranz assimilieren zu können.

In dieser Zeit wurden die Grundsteine für den Aufstieg rechtsterroristischer Kräfte wie dem NSU auf der einen Seite gelegt, für die Demokratiemüdigkeit auf der anderen.

Bolz begegnet dieser Zeit mit einer Mischung aus Nachforschungen in der eigenen Biographie und distanzierter Analyse. Die rohe Sprache des Teenagers in den biographischen Passagen bricht er immer wieder mit einer sachlichen Betrachtung der politischen Umstände, die parallel die Realität formten.

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„Wenn ich alles nur so heruntergeschrieben hätte“, meint er am Landwehrkanal, „hätte das wieder keiner geglaubt. Aber wenn ich schreibe, dass es in dem Viertel eine Arbeitslosenquote von 29 Prozent gab, dann begreift man es. Ich wollte meine Individualgeschichte verbinden mit einer strukturellen.

In großen Teilen des Ostens kann man ähnliche Geschichten erzählen.“ Als Heranwachsender habe ihn all das gar nicht so sehr interessiert, Politik, Arbeitslosenzahlen, die Welt da draußen hinter der Stadtgrenze von Stralsund. Erst heute, im Alter von 33 Jahren, sei ihm der Kontext dieser allgemein verbreiteten Vernachlässigung seiner Jugend bewusst geworden.

In kurzen Vignetten geht es in „Nullerjahre“ durch die Jugend von Bolz, einer Jugend, in der Erwachsene kaum eine Rolle spielen.

Der Rapper erzählt von Freizeiten, Bolzplätzen, vom Saufen, Ballern, Feiern, von Nazis, die als coole Vorbilder das Viertel beherrschen, vom Abstieg in eine Welt, in der Kids mitleidlos miteinander umgehen – und trotzdem aneinander hängen, einander festhalten in einer unsicheren, von Zerstörungswut geprägten Gegenwart. Der Satz „Nichts schönes darf es hier geben“ zieht sich als Mantra durch das Buch. Ein neuer Spielplatz wurde gebaut? Er wird auseinandergenommen. Jemand hat ein neues Fahrrad geschenkt bekommen? Es wird demoliert. Erste Liebe? Darf nicht sein.

“Die blieben, konnten immer noch sagen: Wir sind härter als die anderen”

Hendrik Bolz interpretiert das alles als ein Aufbegehren gegen kosmetische Veränderungen. Denn wirklich gebraucht wurde etwas anderes: „Was hat uns gefehlt? Hinschauen – und auch vom Westen aus! Dass gesellschaftlich hingeschaut wird und Institutionen in diesen Vierteln und Landstrichen auch auftauchen und die Menschen nicht sich selbst überlassen werden.”

Die Welt von der Bolz erzählt, die von Knieper West, ist mangels des gesellschaftlichen Interesses an den hier lebenden Menschen eine, in der vermeintliche Härte regiert. „Es gab vor allem eine Härte sich selbst gegenüber“, erzählt er, „eine Diskriminierung von Gefühlen, vor allem von Angst und Trauer.“

Für ihn ein Erbe der DDR, deren Ideologie und pädagogische Methoden noch bis in seine Kindheit hineinwirkten, aber auch ein Resultat der Wende und den oft traumatischen Umwälzungen: den Massenentlassungen, dem Verschwinden großer Betriebe.

Die dramatischen Veränderungen der Nachwendejahre rissen feste soziale Gefüge auseinander. Manche fanden sich im neuen System zurecht, andere nicht. „Es gab nur noch wenige Arbeitsplätze für viele Menschen, einige fanden Jobs, zogen weg. Und was hatten die, die zurückbleiben mussten oder wollten noch? Sie konnten sich immer noch sagen, dass sie härter waren als die anderen.“

“Man belauert sich gegenseitig: Wer zeigt Schwäche, wer ist peinlich”

Gleichzeitig herrschte in ganz Deutschland eine Atmosphäre der Brutalität: „Die Gesellschaft war stark so geprägt. Wenn jemand anders war, machte man sich lustig. In den Comedysendungen der Zeit, war ,schwul’ ein Schimpfwort, rassistische Figuren wie der ,wolle Rosen kaufen?’-Inder waren normal. Wer nicht weiß, männlich, hetero und wohlhabend war, jeder der herausstach, war gleich eine Witzfigur und Karikatur. Euch geht es schlecht? Wir lachen da auch noch darüber.“

Dieser dauernde Druck, härter, krasser, brutaler und empathieloser zu sein als die anderen hinterlässt Spuren: „Man belauert sich nur gegenseitig. Wer zeigt Schwäche? Wer ist peinlich? Wessen Eltern fahren noch einen Trabi, wessen Vater ist Alki? Man steht sich feindlich gegenüber, als würde man sich hassen – aber eigentlich sind das deine besten Freunde“, erinnert er sich. „Ich habe im Zuge des Schreibens mit alten Freunden gesprochen, es macht mich traurig, dass wir nie nett zueinander waren.”

Hendrik Bolz hatte dann irgendwann mit Panikattacken zu kämpfen. Er zog nach Berlin, erlebte seinen eigenen kleinen Kulturschock als FU-Student, weit weg von den Berlinklischees des deutschen Gangsterraps, und traf bei einem Praktikum Moritz Wilkens, als Grim104 die andere Hälfte von Zugezogen Maskulin. Der Rest ist deutsche Hip-Hop-Geschichte, und nun steht er hier mit einem Pappbecher Kaffee am Landwehrkanal.

Er scheint es geschafft zu haben, raus aus Knieper West, rein ins (pop-)kulturelle Herz des wiedervereinigten Deutschlands. Aber was ist mit den Freund*innen von früher, die im Buch auftauchen? Wie lesen sie diese Geschichte, die kein sonderlich gutes Licht auf ihre Jugend in Knieper West wirft? „Ich hatte Befürchtungen, sie würden es nicht so gut finden, dass ihre Geschichten nacherzählt werden“, sagt Bolz. „Doch im Gegenteil, sie finden das richtig gut. Es muss erzählt werden.”

Und Bolz hat es erzählt. So hässlich wie die Realität war, so analytisch, wie er sie heute sieht – und so liebevoll, wie man nur auf seine Vergangenheit blicken kann.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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