Dnachrichten.de
Berlin news - Die offizielle Website der Stadt Berlin. Interessante Informationen für alle Berlinerinnen, Berliner und Touristen.

Helga Schuberts Buch “Vom Aufstehen” : Die Kälte mit Erinnerungen bekämpfen

Lauter Geschichten aus einem bewegten Leben: Die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert und ihr Buch „Vom Aufstehen“.

Helga Schuberts Buch "Vom Aufstehen" : Die Kälte mit Erinnerungen bekämpfen

Wo auch Rehe vorbeischauen und sich unter den Bäumen niederlassen. Helga Schubert im Sommer 2020 im Garten ihres Hauses in…Foto: dpa

Es ist der Tag der Premiere ihres Buches „Vom Aufstehen“ im Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße, und Helga Schubert hat sich für das Gespräch ein Galeriezimmer ausgesucht, an der Wand hinter ihr hängen, dicht an dicht, die gerahmten Bilder ihres Mannes Johannes Heim. „Das gute, schnelle Internet kommt erst im September, hoffentlich funktioniert alles“, sorgt sie sich.

Das Ehepaar wohnt im mecklenburgischen Neu-Meteln, einem Dorf irgendwo zwischen Wismar und Schwerin, in einem Haus, das die Autorin in einer ihrer Geschichten als „so selbstverständlich eingeduckt unter den Bäumen“ beschreibt, „dass sich kürzlich sogar ein Reh wiederkäuend im Garten vor einem Busch niederließ und uns zusah“.

Neu-Meteln ist eins der vielen Dörfer dieser Gegend, in denen sich Hase, Fuchs und Reh gute Nacht sagen und sonst nicht viel passiert; doch zählt es inzwischen zu einem der berühmteren, viel besuchten literarischen Orte des Landes.

Als Helga Schubert vergangenes Jahr im Alter von 80 Jahren den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, nicht in Klagenfurt, weil die Pandemie zu der Zeit die Welt schon im Griff hatte, sondern von ihrem Haus in Neu-Meteln aus, machten sich danach zahlreiche Journalist:innen und Literaturkritiker:innen auf den Weg zu ihr.

In Neu-Meteln wohnten einst auch Christa Wolf und Sarah Kirsch

Sie erfuhren unter anderem, dass die Schriftstellerin nicht nur seit fast einem halben Jahrhundert hier lebt, „erst als Urlauberin, dann einige Wochen, dann viele Monate im Jahr, nun ganz und gar“, wie es in einer Geschichte mit dem Titel „Meine Heimat“ heißt, sondern dass es die ungleich prominentere Kollegin Christa Wolf war, die sie einst nach Neu-Meteln lockte.

Wolf scharte hier Kolleginnen und Kollegen um sich, sie protegierte Schubert, und die ebenfalls zeitweise zu dieser Künstlerkolonie zählende Sarah Kirsch war es, die 1975 das Nachwort zu Schuberts erstem Erzählungsband „Lauter Leben“ schrieb.

Wolf mit ihrem „Sommerstück“ und Sarah Kirsch mit „Allerlei-Rauh“ haben über diese Zeit und das Leben miteinander Bücher geschrieben.

Auch in Helga Schuberts „Vom Aufstehen“ ist häufig vom Land und den Leuten hier die Rede: vom Bauern gegenüber, der sich umgebracht hat; von den im Winter „zugefrorenen Furchen“ der Äcker; von der Geigenbauerin und dem Hornisten aus dem Westen, die sie jetzt als Nachbarn haben; von einem Gehöft, von dem nach einem Brand nur noch der Schafstall steht (tatsächlich sind die Häuser der Wolfs und der Heims einem Feuer zum Opfer gefallen, neu gebaut haben nur Schubert und ihr Mann).

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Viele Geschichten ihres Buches stammen aus den Jahren vor dem Bachmann-Preis-Triumph. „Ich habe immer geschrieben, täglich“, sagt Schubert und erzählt, dass sie zu den Ausstellungen der Bilder ihres Mannes bei sich zu Hause immer eine Geschichte geschrieben und diese vorgelesen habe, vor einem Publikum, das mitunter 60, 70 Menschen zählte.

„Ich wusste, dass das andere Leute angeht.“ Dass Schubert einem größeren Literaturpublikum kein Begriff ist wie Christa Wolf oder Sarah Kirsch und sie erst jetzt, im hohen Alter, wiederentdeckt wird, hat viele Gründe: Ihr letztes Buch ist von 2003, „Die Welt da drinnen“.

Darin beschäftigt sich Schubert mit der sogenannten Euthanasie der Nazis, mit dem „Wahn vom ,unwerten‘ Leben“, wie das Buch untertitelt ist, dargestellt mit Fallgeschichten eines Schweriner Krankenhauses. 2008 erkrankte ihr Mann schwer, von da an kümmerte sie sich intensiv um die Pflege des inzwischen 93-Jährigen.

1980 wurde Schubert die Teilnahme am Bachmann-Preis untersagt

Und auch der Fall der Mauer, für sie bis heute ein einziges Glück, war für die Autorin der Anlass, sich zuvorderst politisch zu engagieren: Schubert wurde Pressesprecherin des Runden Tisches; und 1994 hätte sie in den Berliner Bezirken Mitte und Prenzlauer Berg als von der CDU vorgeschlagene parteilose Kandidatin gegen Wolfgang Thierse und Stefan Heym antreten können, was sie schließlich aus persönlichen Gründen ablehnte.

„Ein Leben in Geschichten“ steht auf dem Buch (dtv, München 2021. 222 S., 22 €.), und natürlich geht es darin nicht um irgendein Leben, sondern um das von Helga Schubert. Es ist dies ein bewegtes Leben gewesen, erst als Kriegs- und Flüchtlingskind, dann in der DDR, dort im Visier der Stasi, unter Repressalien leidend, aber auch mit Privilegien ausgestattet, seit 1989 im wiedervereinigten Deutschland.

Kein Wunder, dass diese Schriftstellerin, die 1940 in Berlin-Kreuzberg geboren wurde und bis in die späten siebziger Jahre hinein als klinische Psychologin arbeitete, viele Geschichten erzählen kann.

Zum Beispiel wie ihre Mutter „jeden Tag mit mir die verbotenen Nachrichten im Rias gehört“ hat, da lebte sie schon im Ostteil der Stadt, in Karlshorst. Oder wie sie, als die Mauer gebaut wurde, gerade auf Usedom war, in Karlshagen. Aber auch, wie sie sich mit Christa Wolf entzweite, wie ihr deren Nähe zum Regime suspekt war, als “SED-Schriftstellerin- und Funktionärin” bezeichnete sie diese im vergangenen Sommer. Das sorgte für Aufsehen, und eigentlich will sie über Christa Wolf auch kein Wort mehr verlieren.

Lieber erzählt sie jetzt an diesem Tag ihrer Buchpremiere, dass sie 1980 trotz Einladung durch den Juror Günter Kunert zum Bachmann-Preis keine Ausreisegenehmigung erhalten hatte, unter anderem weil der „antikommunistische“ Marcel Reich-Ranicki Vorsitzender der Jury war „und man daran ja erkennen könne, so die Begründung des SED-Staats damals, dass der gesamte Wettbewerb keine österreichische, sondern eine bundesdeutsche Unternehmung war“.

Ihren Vater hat sie nie kennengelernt

1987 durfte sie schließlich nach Klagenfurt – „durfte“, das Wörtchen betont Schubert häufig –, dieses Mal als Jurorin, weil zu der Zeit der amerikanische Germanist Peter Demetz die Jury leitete: „Ich bin also wieder zum Schriftstellerverband mit meinem Anliegen. Hermann Kant war damals der Präsident, und der ließ mich reisen unter der Voraussetzung, dass mir jemand beigesellt wurde. Das war Werner Liersch. So saßen wir zu zweit in der Klagenfurter Jury und konnten DDR-Schriftsteller einladen.“

Um viele belastende Eigentümlichkeiten in der DDR geht es auch in ihrem Buch. Etwa was für eine Odyssee es war, Bücher von Uwe Johnson lesen zu können. Oder als ihr Sohn den Berufswunsch äußerte, Förster zu werden. Voraussetzung dafür: keine Verwandten im westlichen Ausland.

Der DDR-Staat fürchtete eine „Sicherheitslücke“: „Wir stellen hier bei uns etwas sehr Exportintensives her, etwas, wofür unser Staat viele Devisen einnehmen kann: Lärchenpflanzen. Sie gehen in die ganze Welt. Wenn unsere Produktionsmethode dem Westen bekannt würde, dann würden die das selber so machen wie wir und nicht mehr bei uns kaufen.“

Nachhaltiger, tragischer, weniger skurril sind die Erinnerungen an die eigene Familie, an das Aufwachsen bei ihrer Mutter und Großmutter. Schuberts Vater kam 1941 in Stalingrad ums Leben; 1944 flüchtete sie mit der Mutter von Berlin nach Hinterpommern, von dort wiederum gegen Kriegsende nach Greifswald zu den Schwiegereltern ihrer Mutter.

Im Zentrum steht meist der Konflikt mit der Mutter. Diese wollte zuerst kein Kind, schon gar kein Mädchen, schlug sie, strafte sie mit Zurückweisungen, lehnte aber brüsk den Vorschlag ihrer Schwiegervaters ab, sich wegen der potenziellen Grausamkeit der Sowjetarmee zu suizidieren: „Dann muss ich ja mein Kind vorher töten, habe ich zu ihm gesagt, das kann ich nicht.“

Aus allem, was ich erlebe, mache ich kleine Kunstwerke

Als Ausdruck dieser nie überwundenen Fremdheit und Distanz steht hier vor allem die Geschichte „Die Wahlverwandtschaft“, die Schubert in einer kunstvoll verschobenen Perspektive erzählt.

In der dritten Person zwar, aber die Mutter bezeichnet sie stets als „meine Mutter“: „Ihre Tochter, die von meiner Mutter geschlagen wurde, manchmal einfach, weil sie da war oder hustete oder abends im Bett weinte als kleines Kind. Meiner Mutter schien es, dass dieses Kind unzufrieden mit ihr war.“

Schubert sagt, wie sie da in Neu-Meteln vor den Bildern ihres Mannes sitzt, sie habe ihre Mutter respektiert, gefürchtet, aber nicht geliebt. Doch habe es auch eine Bewegung gegeben zwischen ebenjener distanziert angelegten Erzählung und anderen Geschichten über die mit 101 Jahren verstorbene Mutter, in denen auch eine gewisse Wärme, ein nachträgliches Vergeben erkennbar wird.

„Vom Aufstehen“ ist durchweg streng durchkomponiert. Es beginnt mit einem kurzen, „Mein idealer Ort“ übertitelten Stück. Dieser Ort ist für Schubert eine Erinnerung, eine an den jeweils ersten Tag der Sommerferien bei ihrer Großmutter in Greifswald. Erinnerung ist hier vor allem auch Lebenshilfe: „So konnte ich alle Kälte überleben“.

Geschichten als Mikroskop

Und das Buch endet mit dem Klagenfurter Preistext, der viele Themen des Buches bündelt und auf zwei Ebenen die Erinnerung an die Mutter mit dem Aufwachen und der Neu-Metelner Gegenwart verknüpft. Des Weiteren macht sich Schubert Gedanken über den Winter oder den Wald, die immer auf noch etwas anderes verweisen.

Es gibt Geschichten, in denen Sinneswahrnehmungen dominieren, oder solche, die scheinbar Entlegenes zusammenführen. Zum Beispiel die Schießerei zwischen der GSG 9 und der RAF auf dem Bahnhof in Bad Kleinen mit ebenjenem erwähnten Selbstmord des Landwirts und überhaupt der stillen, ländlichen Szenerie.

Auch das Schreiben ist Thema, der „Mut“, den sie dafür aufbringen musste, die Zeit, die sie brauchte, um „Geschichten als Mikroskop“ zu verstehen, als „Spiegel“. „Ich denke immer über Erzählbares nach“, sagt Schubert.

„Ich mache aus all dem, was ich erlebe, kleine Kunstwerke.“ Und sie fügt an, froh darüber, dass das Internet an diesem windstillen, sonnigen Tag in Mecklenburg gut funktioniert hat: „Genau das werde ich tun, solange ich denken und mich erinnern kann.“ Obwohl ihr Buch Züge einer Lebensbilanz trägt, darf man es als Auftakt für eine späte zweite Karriere verstehen. Helga Schubert hat noch viele Geschichten zu erzählen.

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

Hinterlasse eine Antwort

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.

This website uses cookies to improve your experience. We'll assume you're ok with this, but you can opt-out if you wish. Accept Read More

Privacy & Cookies Policy