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Volksvorsorge: In Deutschland gibt es über 80 Millionen Lebensversicherungsverträge.

© dpa-tmn

Verbraucherschützer schlagen Alarm: "Ein Viertel der Lebensversicherer ist angezählt"

Zu wenig Rücklagen, zu geringe Gewinne: Der Bund der Versicherten warnt vor Schieflagen. Doch die Branche weist das zurück: Die Verträge seien sicher.

Es ist ein dramatisches Bild, das der Bund der Versicherten (BdV) vom Zustand der deutschen Lebensversicherer malt: „Ein Viertel der Versicherer ist angezählt“, sagte BdV-Chef Axel Kleinlein am Donnerstag. Die Verbraucherschützer haben sich gemeinsam mit dem Analysten Carsten Zielke die Solvenzberichte von 80 deutschen Lebensversicherungsgesellschaften angeschaut. Sie sagen aus, ob die Unternehmen genug Rücklagen haben, um für Krisen – wie etwa Naturkatastrophen oder Abstürze an den Finanzmärkten – gerüstet zu sein.

Kritiker: Axel Kleinlein, Chef des Bundes der Versicherten, hält Lebensversicherungen für "legalen Betrug".
Kritiker: Axel Kleinlein, Chef des Bundes der Versicherten, hält Lebensversicherungen für "legalen Betrug".

© promo

Das Problem: 42 der 80 Versicherer kommen hier nicht gut weg, hat die Analyse der Verbraucherschützer ergeben. „53 Prozent aller Unternehmen können nur unter Zuhilfenahme von Übergangsmaßnahmen, Volatilitätsanpassungen und/oder Kundengeldern die geforderte Solvenz nachweisen“, warnte Kleinlein, „das ist ausgesprochen problematisch“.

Ein Viertel der Versicherer hat "ernste Probleme", sagt der Verbraucherverband

Hinzu komme, dass 18 Gesellschaften derzeit nicht erwarten, Gewinne zu machen. Man frage sich bei diesen Unternehmen schon, wie „wirtschaftlich tragfähig“ das Geschäftsmodell eigentlich sei, kritisierte Kleinlein. Fasse man Solvenzquote und Gewinnerwartung zusammen, hätten 23 der untersuchten Unternehmen „ernste Probleme“.

Verbraucherschützer rechnen strenger als die Aufsicht

Man muss jedoch wissen, dass die Verbraucherschützer für ihre Analyse deutlich strengere Maßstäbe angelegt haben als es der Gesetzgeber tut. Weil sich die europäischen Solvenzrichtlinien vor einigen Jahren geändert haben, haben die Versicherer für eine lange Übergangszeit Schonfrist. Sie dürfen bis zum Jahr 2032 Übergangsmaßnahmen bei der Berechnung der Solvenzquote einbeziehen, auch die Rücklagen, die Unternehmen für spätere Ansprüche der Kunden – etwa für den Schlussüberschuss am Vertragsende – zurückgelegt haben, dürfen als Eigenmittel angerechnet werden.

Versicherungsverband: Niemand muss sich Sorgen machen

Die Versicherungsbranche weist daher die Kritik der Verbraucherschützer entschieden zurück. Die vom BdV gewählte Methode sei „willkürlich“, die Solvenzlage der deutschen Lebensversicherer sei nachweislich besser als vom Bund der Versicherten dargestellt, betonte der Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), Jörg Asmussen. „Kein Kunde muss sich Sorgen um seine Lebensversicherung machen“, versicherte Asmussen. „Die garantierten Leistungen sind gesichert.“ Das gehe auch aus Prognoserechnungen der Finanzaufsicht Bafin hervor.

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Was die Finanzaufsicht sagt

Bei der Bafin heißt es jedoch, dass es nach 2032 für den einen oder anderen Lebensversicherer schwierig werden könnte, ohne zusätzliche Kapitalmaßnahmen oder die Reduzierung von Risiken die Kapitalanforderungen für die Solvenz zu erfüllen. Allerdings gestatte der Gesetzgeber den Unternehmen ausdrücklich die Anwendung bestimmter Übergangsmaßnahmen, um den schrittweisen Übergang zu ermöglichen. Das sei angesichts der Verträge mit langfristigen Garantien von hoher Bedeutung. Sollte ein Versicherer jedoch absehbar 2032 die Solvenzkapitalanforderungen nicht erfüllen und auch die Anforderungen an die Mindestkapitalausstattung verfehlen, entzieht die Bafin die Erlaubnis, das Unternehmen kann kein Neugeschäft mehr machen. "Es gibt derzeit aber keine konkreten Fälle", sagte ein Bafin-Sprecher dem Tagesspiegel.

Mathematiker warnen vor Fehlinterpretationen

Die Versicherungsmathematiker betonen, dass die Marktsituation „weiterhin sehr stabil“ sei. Man dürfe die Verwendung von Übergangsmaßnahmen nicht als Zeichen der Schwäche werten, sagte der Chef der Deutschen Aktuarvereinigung, Herbert Schneidemann. Sie ermöglichten vielmehr eine laufende und ressourcenschonende Verbesserung der Risikotragfähigkeit und seien daher im Sinne eines kollektiven Verbraucherschutzes zu begrüßen. Wer das außer Acht lasse, verwende aufsichtsrechtlich kein validen Kennzahlen und riskiere Fehlinterpretationen, warnte Schneidemann mit Blick auf den BdV. Doch der sieht das anders. BdV-Chef Kleinlein, findet, dass die Versicherer bei ihrer Risikoabsicherung keine Gelder einbeziehen dürfen, die den Versicherten zustehen – auch wenn das nach geltendem Recht erlaubt ist. Das sei „legaler Betrug“, ärgert sich Kleinlein.

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Riester-Renten auszahlen lassen

Um den Druck von den Unternehmen zu nehmen, schlagen Kleinlein und Analyst Zielke vor, dass die Politik eingreift. Weil bisher bei Riester- und Rürup-Rentenversicherungen vorgeschrieben ist, dass die eingezahlten Gelder später (überwiegend) als Rente ausgezahlt werden, müssten die Versicherer viele Solvenzmittel vorhalten und hohe Risiken eingehen, um das Langlebigkeitsrisiko abzubilden. „Wir fordern, dass der bestehende Verrentungszwang bei Riester- und Rürup-Renten endlich aufgehoben wird“, forderte Kleinlein.

Protest vor dem Kanzleramt: Verbraucherschützer fordern ein Ende der Riester-Rente.
Protest vor dem Kanzleramt: Verbraucherschützer fordern ein Ende der Riester-Rente.

© AFP

Zumindest für neue Verträge könnte sich das Problem jedoch von selber lösen. Denn nach Berechungen von Zielke lohnt sich für Versicherer der Abschluss von neuen Riester-Verträgen angesichts des 2022 auf 0,25 Prozent sinkenden Garantiezinses nicht mehr, die Unternehmen würden draufzahlen. „Kein Vorstand könnte das rechtfertigen“, sagte der Analyst.

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