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Kaum was los in Berlins U-Bahn.

© Kitty Kleist-Heinrich

„Tiefste Krise seit Jahrzehnten“: Der öffentliche Nahverkehr steckt weiter in einer verfahrenen Lage

Die ÖPNV-Betreiber erhalten zusätzliche Milliarden. Zur Rettung der Branche braucht es aber ein neues Finanzierungsmodell. Und neue Marketing-Ideen und Tarife.

Der Bundestag war in Abschiedsstimmung. Langgediente Abgeordnete hielten am letzten regulären Sitzungstag vor der Wahl im September ihre letzten Reden. Das Parlament war mitten in der Nacht nur noch spärlich besetzt.

Doch für die Betreiber des öffentlichen Nahverkehrs fiel am Freitag um 1.22 Uhr noch eine wesentliche Entscheidung. Mit den Stimmen von Union, SPD und den Grünen beschloss der Bundestag den zweiten ÖPNV-Rettungsschirm.
Corona hat den öffentlichen Nahverkehr in eine Existenzkrise gebracht. Die Fahrgastzahlen brachen in ganz Deutschland ein. Das Angebot fuhren die Betreiber wegen des Infektionsschutzes jedoch kaum zurück, in der Hoffnung, dass die fehlenden Einnahmen ersetzt werden.

Es fehlen sieben Milliarden Euro

Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) schätzt, dass Corona in der Branche 2020 und 2021 zu einem Schaden von sieben Milliarden Euro führt. Nach einem ersten ÖPNV-Rettungsschirm von fünf Milliarden Euro im vergangenen Jahr, war deshalb schon lange ein zweites Hilfspaket von zwei Milliarden Euro vereinbart – je zur Hälfte finanziert von Bund und Ländern.

Doch dann stellte sich die Unions-Fraktion um den Haushälter Eckhardt Rehberg quer – nachdem der Bundesrechnungshof ein offenes Geheimnis ausgesprochen hatte: Während der Bund seine 2,5

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Milliarden Euro zum ersten ÖPNV-Rettungsschirm beisteuerte, haben die meisten Länder ihre Versprechen kaum erfüllt. Erst im letzten Moment konnte ein Kompromiss gefunden werden. Der Bund gibt eine weitere Milliarde Euro für den zweiten Rettungsschirm. Diese Mittel sollen die Länder aber erst dann abrufen können, wenn sie ihren verabredeten Beitrag geleistet haben. Zudem wird der Bund seine Hilfe in zwei Tranchen auszahlen, um nicht erneut in Vorleistung gehen zu müssen.

Wie soll die Verdoppelung der Fahrgastzahlen gelingen?

Die Probleme der Branche sind damit aber noch nicht gelöst. Susanne Henckel drückt das mit einem Fußballvergleich aus. Wie Schalke 04 sei der ÖPNV gerade abgestiegen – erkläre aber zugleich: „Unser Ziel in zwei Jahren ist die Champions League“, sagte die Geschäftsführerin des Verkehrsverbundes Berlin Brandenburg (VBB) am 9. Juni auf dem ÖPNV-Innovationskongress in Freiburg.

Der Nahverkehr sei in der „tiefsten Krise seit Jahrzehnten“, erklärte die erfahrene Managerin. Die Politik fordere jedoch zeitgleich bis 2030 eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen, für den Klimaschutz und um die Städte vom Autoverkehr zu entlasten.

Mit Bus und Bahn fuhren während der Lockdowns fast nur Menschen ohne Alternative.
Mit Bus und Bahn fuhren während der Lockdowns fast nur Menschen ohne Alternative.

© Christoph Soeder/dpa

Die „Wahlfreien“ sitzen nicht mehr in Bus und Bahn

Wie schwierig die Ausgangsposition ist, zeigen Studien. Die verbleibenden Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel haben häufig keine Alternative. Zu diesem Fazit kam ein Team um den Mobilitätsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) bei einer Untersuchung zum Mobilitätsverhalten während des zweiten Corona-Lockdowns.

In aller Regel hätten sie ein niedriges Einkommen und einen geringen Bildungsgrad, sie seien eher Männer als Frauen, schreiben die Forscher. Die „Wahlfreien“ haben Busse und Bahnen dagegen weitgehend verlassen und nutzen vermehrt das Auto oder das Fahrrad.
Bei vielen Menschen werden die nun eingeübten Muster auch nach der Pandemie fortbestehen, vermuten Verkehrswissenschaftler vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Die Betreiber von Bussen und Bahnen werden kämpfen müssen, um die Menschen zurückzuholen.

Hinzu kommt der Trend zum Homeoffice. Viele Arbeitnehmer wollen trotz zweifacher Impfung gerne weiter ein oder zwei Tage die Woche von zuhause arbeiten. Das macht Nahverkehrs-Abos unattraktiv.

Das Homeoffice-Ticket kommt nicht voran

Susanne Henckel, die auch Präsidentin des Verbands der Aufgabenträger im Schienennahverkehr (BAG-SPNV) ist, wirbt deshalb für flexiblere Abo-Modelle. Doch die Branche ist schwerfällig. Eine entsprechende Initiative der Berliner BVG scheiterte in Henckels eigenem Verkehrsverbund an Bedenken aus Brandenburg. Das Beratungsunternehmen Civity erwartet deshalb schon „fünf verlorene Jahre für den öffentlichen Nahverkehr“. Im Extremfall rechnet Civity mit einem Fahrtenrückgang von bis zu 50 Prozent bis Ende 2023. Für die Verkehrsunternehmen würde das Nettoerlösausfälle von fünf bis zehn Milliarden Euro bis Ende 2023 bedeuten, heißt es.

Ein Großteil der Verluste würde dabei erst nach der eigentlichen Pandemie in den Jahren 2021 bis 2023 auftreten. Die klassische Finanzierung des ÖPNV aus Ticketeinnahmen und Steuergeldern wird deshalb in Zukunft nicht mehr ausreichen, ist Civity überzeugt.

Sollten Autofahrer und Immobilienbesitzer mitzahlen?

In einer Studie, die in der kommenden Woche veröffentlicht werden soll, schlagen die Berater vor, die Nutznießer an den Kosten zu beteiligen. So könnten Autofahrer – etwa über höhere Parkgebühren – herangezogen werden, weil Busse und Bahnen verstopfte Straßen verhindern. Und Immobilienbesitzer müssten eine Erschließungsabgabe bezahlen, weil ein ÖPNV-Halt den Wert ihrer Grundstücke erhöht. Vergleichbare Modelle gibt es in Europa längst.
Auch Susanne Henckel vom VBB setzt auf Querfinanzierung. Henckel warb in Freiburg zugunsten des ÖPNV für eine Pkw-Maut 2.0, für höhere Parkgebühren, die Abschaffung des Dienstwagenprivilegs und der Diesel-Vergünstigung sowie eine City-Maut. Die wahren Kosten des Autos dürften nicht länger von der Allgemeinheit getragen werden. „Neben attraktiven ÖPNV-Angeboten braucht es für die Verkehrswende auch eine Diskriminierung von Autos in Städten“, sagte Henckel.
Einen ersten Schritt in diese Richtung will Baden-Württemberg mit dem Mobilitätspass gehen. Die grün-schwarze Koalition will es Kommunen erlauben, Autobesitzer für den Ausbau des Nahverkehrs heranzuziehen. Im Gegenzug sollen sie ein ÖPNV-Ticket erhalten – den Mobilitätspass. Die Maßnahme soll eine landesweite Mobilitätsgarantie mit öffentlichen Verkehrsmitteln mitermöglichen.

ÖPNV gilt weiter als Virenschleuder

Der Nahverkehr muss aber zunächst sein Image als Virenschleuder abstreichen. Die Fahrten mit Bus und Bahn würden unabhängig von der Qualität der Lüftung weiter als Risiko wahrgenommen, sagte in Freiburg der Mobilitätsforscher Kay Axhausen von der ETH Zürich.

Der Marketing-Experte Claas Christian Germelmann von der Universität Bayreuth empfahl den Betreibern demonstrative Sauberkeit. So könne die Aerosol-Konzentration angezeigt werden, um zu signalisieren: „Hier droht keine Gefahr.“

Die ÖPNV-Betreiber müssten zudem begreifen: „Der Kunde Hans-Dieter von früher ist nicht mehr der Hans-Dieter von heute“, sagte Germelmann. So hätten die Menschen Erfahrung mit digitalen Geschäftsmodellen gemacht. Abo-Modelle im ÖPNV müssten so einfach wie Netflix funktionieren.

Die Unternehmen sollten vermitteln, dass der Nahverkehr den Menschen beim Erreichen ihrer Ziele hilft – etwa bei einer klimafreundlichen Lebensweise und bei ihrer Work-Life-Balance – wobei der Regionalzug zum rollenden Büro oder zum Ort der Erholung wird. ÖPNV-Apps könnten zudem anzeigen, wie viele Schritte man auf dem Weg zur Haltestelle gegangen sei.

Susanne Henckel rückte noch einen Aspekt in den Fokus. Es brauche „Bahnhöfe, von denen man nicht schnell fliehen will“, sagte sie. Bahnhöfe sollten zu Erlebnisräumen werden – mit attraktiven Geschäften und Gastronomie – und das nicht nur in den großen Hauptbahnhöfen.

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