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Nicht ums Geld allein geht es den Metallern im Osten; sie arbeiten jede Woche drei Stunden länger als die Kollegen im Westen.

© dpa

Streit um Arbeitszeit: IG Metall gibt den Kampf um die 35-Stunden-Woche auf

Im Flächentarif ist die Arbeitszeitverkürzung in Ostdeutschland nicht durchsetzbar – jetzt strebt die Gewerkschaft Einzellösungen in fünf Unternehmen an.

Die IG Metall verabschiedet sich vom Ziel der 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland. Nachdem Verhandlungen für eine stufenweise Arbeitszeitverkürzung bis 2030 gescheitert sind, konzentriert sich die Gewerkschaft auf eine Handvoll Unternehmen aus der Autoindustrie. Bei VW in Sachsen, BMW und Porsche in Leipzig sowie ZF und Mahle in Brandenburg hat die IG Metall genügend streikbereite Mitglieder, um eine Angleichung der Arbeitszeit an das Niveau im Westen bis Mitte des Jahrzehnts durchzusetzen. Das bedeutet eine weitere Schwächung des Flächentarifvertrags, der im Osten ohnehin weniger Arbeitgeber und Arbeitnehmer abdeckt als im Westen.

Im Westen gilt die 35 seit 25 Jahren

Die Ungleichheit zwischen Ost und West müsse ein Ende haben, wirbt die IG Metall seit Jahren für Schritte Richtung 35. In Westdeutschland liegt die tarifliche Arbeitszeit der Metaller seit 1995 bei 35, in Ostdeutschland sind es 38 Stunden. 2003 hatte die IG Metall einen Arbeitskampf um die Arbeitszeitverkürzung im Osten krachend verloren. Erst vor drei Jahren fasste die Gewerkschaft das heiße Thema wieder an. Ende 2018 lag dann ein gemeinsames Papier mit den Arbeitgebern aus Berlin und Brandenburg vor, in dem eine schrittweise Einführung der 35 über zehn Jahre bis 2030 vorgesehen war. Die süddeutschen Arbeitgeberverbände – deren große Mitgliedsunternehmen alle in Ostdeutschland Standorte unterhalten – und der Dachverband Gesamtmetall torpedierten die Verabredung. In der aktuellen Tarifrunde fordert die IG Metall ein „tarifliches Angleichungsgeld“ für die Ost-Metaller, um in Richtung 35 zu kommen. Die Arbeitgeber lehnen das strikt ab, sodass es zu einzelbetrieblichen Lösungen in der Arbeitszeitfrage kommen wird.

VW Sachsen kommt zu Wolfsburger AG

Trendsetter dafür ist Volkswagen. Die VW Sachsen GmbH umfasst das Autowerk in Zwickau, die Motorenfabrik in Chemnitz sowie die Gläserne Manufaktur in Dresden. Als in den vergangenen zwei Jahren Zwickau zum ersten VW- Elektroauto-Produktionswerk umgebaut wurde und dabei hohes Tempo gefragt war, um den Rückstand auf dem E-Auto- Markt aufzuholen, stimmte der Betriebsrat Sonderschichten und Überstunden unter der Prämisse zu, dass sich der Konzern bei der Arbeitszeit bewegt. Den 10 000 VW-Beschäftigten im Osten ist kaum noch zu vermitteln, warum sie drei Stunden länger arbeiten als ihre Kollegen im Westen, obwohl Zwickau mindestens so produktiv ist wie Wolfsburg.

BMW und Porsche sind Kandidaten

„Die Gespräche über eine stufenweise Integration der VW Sachsen Standorte in die VW AG laufen“, sagt Jens Rothe, Betriebsratschef in Zwickau. Die Sachsen kommen also zur Wolfsburger AG und fallen dann unter den VW-Haustarif. In welchem Zeitraum es dann runter geht auf 35 Stunden wird derzeit verhandelt.

Das Elektroauto iD4 von VW wird im sächsischen Zwickau gebaut.
Das Elektroauto iD4 von VW wird im sächsischen Zwickau gebaut.

© picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild

Wenn VW geklärt ist, folgen die VW- Tochter Porsche in Leipzig und das Leipziger BMW-Werk, wo es heute größere Warnstreiks gibt. Schließlich Mahle und ZF in Brandenburg. Die IG Metall hätte noch gerne Mercedes in Ludwigsfelde dabei, doch dort fehlt es an Mitgliedern.

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Die Einzelfalllösungen in ostdeutschen Unternehmen werden mehr oder weniger unabhängig vom bundesweiten Tarifkonflikt gefunden. In der vergangenen Woche hat die IG Metall nach eigenen Angaben knapp 230 000 Beschäftigte bundesweit zu Warnstreiks aufgerufen. In dieser Woche dürften es noch mehr werden. Und es entscheidet sich in diesen Tagen, ob der Konflikt vor Ostern gelöst wird – oder nach Ostern eskaliert.

Verhandlungen kommen nicht vom Fleck

Die IG Metall fordert für die rund 3,8 Millionen Metaller ein Volumen von vier Prozent, das optional für eine Entgelterhöhung oder zur Beschäftigungssicherung (Vier-Tage-Woche mit Teillohnausgleich) eingesetzt werden kann, sowie einen tariflichen Rahmen für betriebliche Zukunftstarifverträge zur Gestaltung der Transformation. Die Arbeitgeber wollen wegen der Pandemie erst im nächsten Jahr die Gehälter erhöhen und einen Automatismus zur Abweichung vom Tarif verabreden: Wenn es einem Unternehmen schlecht geht, dann soll es ohne Rücksprache mit der Tarifvertragspartei, also der IG Metall, vom Tarif abweichen und seinen Leuten weniger zahlen oder die Arbeitszeit verlängern dürfen.

Kostenentlastung ist strittig

Die IG Metall lehnt das ab und verweist auf die Möglichkeiten des Pforzheimer Abkommens aus dem Jahr 2004: In wirtschaftlich schwieriger Lage können Betriebe vom Tarif mit Zustimmung der IG Metall abweichen. Allein in Baden- Württemberg habe die Gewerkschaft im Pandemiejahr 2020 etwa 200 Unternehmen und damit rund einem Viertel der tarifgebundenen Unternehmen eine Abweichung zum Zwecke der Kostenentlastung gestattet. Es gebe also keine Notwendigkeit zu weitergehenden Instrumenten, argumentiert die Gewerkschaft. An diesem Punkt wird sie kaum nachgeben. Beim Geld ist die größte deutsche Gewerkschaft wiederum flexibel, denn die Sicherheit der Arbeitsplätze ist ihren Leuten in diesen Zeiten wichtiger als ein höheres Einkommen. Schwierig wird es indes für beide Seiten, wenn man nicht vor Ostern übereinkommt. Dann wird die IG Metall mit ihren berüchtigten 24-Stunden-Streiks den Konflikt forcieren – das erhöht aber die Erwartungen der Streikenden.

Bislang ist die Industrie relativ gut durch die Coronazeit gekommen, und mit jeder Woche wird die Aussicht besser. Auch deshalb wird es für die Arbeitgeber nach Ostern teurer. Die Wahrscheinlichkeit eines Kompromisses im März veranschlagen die Parteien nur auf 20 Prozent. Aber das gehört zum Verhandlungsritual. IG Metall und Arbeitgeber wissen genau, dass sich das Zeitfenster für einen ausgewogenen Abschluss Ostern schließt.

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