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Empfohlen, aber grade nicht möglich: Beim Pneumokokken-Impfstoff gibt es erhebliche Lieferengpässe.

© Ralf Hirschberger/dpa

Lieferengpässe wegen Riesen-Nachfrage: Warten auf den Impfstoff gegen Lungenentzündung

Ältere Menschen sollten sich gegen Pneumokokken impfen lassen. Doch ausgerechnet in der Coronakrise ist der Impfstoff gegen Lungenentzündung nicht lieferbar.

Sie bewahren zwar niemanden vor einer Infektion mit dem gefürchteten Virus SARS-CoV-2. Doch Impfungen gegen Pneumokokken können in der Coronakrise trotzdem sehr hilfreich sein. Zum einen verhindern sie, dass sich bei ohnehin geschwächten Covid-19-Patienten womöglich auch noch eine gefährliche bakterielle Lungenentzündung dazugesellt. Zum anderen tragen sie dazu bei, dass in den Intensivstationen der Krankenhäuser mehr Betten für Covid-19-Fälle frei bleiben.

Leider ist hier aber ein Konjunktiv nötig. Pneumokokken-Impfungen könnten momentan sehr hilfreich sein. Wenn es denn bei den Impfstoffen keine Lieferengpässe gäbe und sie endlich mal wieder verfügbar wären. 

Tatsächlich müssen die niedergelassenen Mediziner ihre Patienten, denen die Ständige Impfkommission (STIKO) beim Robert-Koch-Institut eine Pneumokokken-Impfung ausdrücklich und in Coronazeiten ganz besonders empfiehlt, seit fast einem halben Jahr vertrösten. Es handelt sich dabei um Vorerkrankte mit höherem Risiko und alle über 60-Jährigen. Manche Hausärzte führen ellenlange Wartelisten. Die Praxen wiederum stehen auf Wartelisten der Apotheken. Und keiner weiß verlässlich, wann der begehrte Impfstoff wieder lieferbar ist. Angeblich soll es ihn im Oktober wieder geben.

Nur ein einziger Hersteller

Das Problem hängt auch damit zusammen, dass es nur einen einzigen Hersteller gibt: Der 23-valente Impfstoff – also wirksam gegen 23 verschiedene Pneumokokken-Typen – wird ausschließlich von der Firma MSD (Merck Sharp & Dohme) angeboten. Zwar ist neben diesem Produkt namens Pneumovax 23 noch ein 13-valenter Polysaccharid-Konjugatimpfstoff von Pfizer (Prevenar 13) und ein 10-valenter von Glaxo-Smith-Kline (Synflorix) auf dem Markt. Doch diese beiden Produkte sollen laut STIKO eigentlich nur zur Grundimmunisierung von Säuglingen bis zu zwei Jahren eingesetzt werden – wobei der lieferbare, 13valente Impfstoff nun aufgrund der Engpässe auch für die Anwendung bei Patienten mit erhöhter Gefährdung, etwa aufgrund einer Immunsuppression, empfohlen wird.

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Der Hauptgrund für die anhaltenden Engpässe ist die in den vergangenen Monaten regelrecht explodierte Nachfrage. Ausgelöst worden sei diese durch „aufmerksamkeitsstarke Empfehlungen zur Impfung im Rahmen der Covid-19 Pandemie“, etwa durch Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und das RKI, sagte MSD-Sprecher Kay Rispeter dem Tagesspiegel Background Gesundheit & E-Health. Dazu kam möglicherweise auch noch die öffentlich gewordene Pneumokokken-Impfung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die wegen einer Covid-19-Erkrankung des impfenden Arztes eine zweiwöchige Quarantäne antreten musste.

Impfstoff-Produktion dauert bis zu drei Jahre

Die „erheblich gestiegene Nachfrage“ bestehe seit Mitte März, sagte der Sprecher. Und nach wie vor gebe es einen „weltweit erhöhten Bedarf an Pneumovax 23“. Im ersten Quartal 2020 habe das Unternehmen „bereits rund die Hälfte der für dieses Jahr geplanten Impfdosen ausgeliefert. Das entsprach rund 75 Prozent des Bedarfs des gesamten Vorjahres.“

Will heißen: Mit einem solchen Run auf den Impfstoff habe keiner im Entferntesten rechnen können. MSD bemühe sich jetzt zwar „intensiv um eine Beschleunigung der nächsten Lieferungen“. Doch die Produktion von Impfstoffen sei „als biotechnologischer Vorgang sehr komplex“ und könne bis zu 36 Monate in Anspruch nehmen, so Rispeter. Zudem unterliege sie strengen Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen. Dies erfordere „eine langfristige Produktionsplanung, die eine kurzfristige Anpassung an eine veränderte Nachfrage nur sehr eingeschränkt möglich macht“.

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Beim für Impfstoffe zuständigen Paul-Ehrlich-Institut (PEI) bestätigen sie diese Darstellung. Die Produktion von Impfstoffen sei etwas ganz anderes als die von synthetisch hergestellten Medikamenten, bei denen man für größere Liefermengen nur auf ein paar Knöpfe drücken müsse, sagt Institutssprecherin Susanne Stöcker. Hier gehe es darum, erstmal die Erreger vermehrt zu bekommen – und es nütze nichts, dabei Druck auszuüben, denn „dadurch wachsen sie nicht schneller“. Dem Vernehmen nach ist beispielsweise allein der Herstellungsprozess eines Konjugatimpfstoffes, der nur gegen 13 verschiedene Serotypen wirkt, in 581 einzelne Schritte aufgeteilt.

75 Prozent des üblichen Jahresverbrauchs schon im ersten Quartal

Auch das PEI führt die Lieferengpässe auf die unerwartet gestiegene Nachfrage zurück. Der Jahresverbrauch von Pneumovax 23 habe 2017 bei nur 800.000 Impfdosen gelegen. Im Jahr 2019 waren es 1,2 Millionen. Und allein im ersten Quartal 2020 seien schon 900.000 Dosen verbraucht worden. Wenn der Impfstoff in den Jahren zuvor von Risikopatienten und älteren Menschen so angenommen worden wäre wie empfohlen, hätte es die Notsituation jetzt nicht gegeben, betont die Sprecherin. Dann nämlich hätten die Hersteller, die sich natürlich am Vorjahresverbrauch orientieren, deutlich mehr vorproduziert. Die STIKO-Empfehlung ist knapp zwei Jahrzehnte alt. Lieferengpässe für den Impfstoff hat es nach Stöckers Erinnerung seither niemals gegeben.

Pneumokokken sind hierzulande die Ursache für rund 25 bis 40 Prozent aller ambulant erworbenen Lungenentzündungen und für bis zu 2.000 Todesfälle im Jahr. Insofern sei das gestiegene Arzt- und Patienteninteresse an den Impfstoffen erfreulich, betont die PEI-Sprecherin. Im Oktober, also noch rechtzeitig vor der Influenza-Saison, seien die Einmal-Spritzen voraussichtlich wieder lieferbar. Für die Zehner-Packungen, die für gesetzlich Versicherte vorgesehen sind, heißt es bei der Behörde nur vage und ohne Zeitangabe, dass sie „eingeschränkt verfügbar" seien. 

Allerdings war für Anfang Mai auch schon mal ein Ende der Lieferengpässe prognostiziert. Tatsächlich habe man dann „zusätzliche Dosen des Impfstoffes aus Japan importieren und dem hiesigen Markt zur Verfügung stellen“ können, erinnert der MSD-Sprecher. Manche Apotheken versuchten, von diesem Nachschub größere Chargen zu bunkern. Doch das Hamstern funktionierte nicht: Die Impfstoffe waren nur bis Ende Juni haltbar.

Kassenärzte und Apotheker beunruhigt 

Die STIKO empfiehlt den Ärzten eine Priorisierung des raren Impfstoffs. Statt ab 60 sollten nun erst Patienten ab 70 damit geimpft werden. Vorzuziehen seien zudem Patienten mit Immundefekten sowie mit chronischen Erkrankungen des Herzens oder der Atmungsorgane. Niedriger valente Impfstoffe könnten zwar auch bei besonders gefährdeten Erwachsenen Anwendung finden, kompensieren ließen sich die Lieferengpässe dadurch aber nicht.

Die Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ist beunruhigt über diese Situation. Bei Impfungen handle es sich um „äußerst wichtige präventive Maßnahmen“, hieß es dort. Dies gelte im Besonderen auch für die Pneumokokken-Impfung. Dabei hätten „alle relevanten Beteiligten eng zusammengearbeitet und die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten genutzt“ – etwa mit der Einfuhr von Impfstoffen aus anderen Ländern oder den Priorisierungs-Empfehlungen der STIKO. Und auch beim Deutschen Apothekerverband wächst der Ärger. „Wir Apotheker bemühen uns mit teils großem zeitlichen Aufwand, die Impfdosen für die Arztpraxen vor Ort zu beschaffen“, sagte deren Patientenbeauftragte Berend Groeneveld dem Tagesspiegel Background. Lieferengpässe seien aber „leider schon seit einigen Jahren ein Problem in den Apotheken“. Diesem wolle man sich während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft deshalb „in den kommenden Monaten auch in Brüssel ganz besonders und verstärkt zuwenden“.

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