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15 Prozent des hierzulande verbrauchten Gas entfallen allein auf die chemische Industrie. Foto: Frank Eppler/Arbeitgeberverband Chemie

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Interview über die Zukunft der deutschen Industrie: „Ohne Gas gibt es massive Arbeitsplatzverluste“

Der Unternehmer und Arbeitgeberpräsident Arndt Kirchhoff über die Folgen des Krieges für die global tätige Industrie und die Arbeit der Ampel-Koalition.

Herr Kirchhoff, bedeutet die Zeitenwende das Ende der Globalisierung?
Das will ich nicht hoffen. Vieles ist im Umbruch, das beobachten wir ja schon länger, und manches ist ins Stocken geraten. Das hing mit Trump zusammen, mit der chinesischen Handelspolitik und mit zunehmenden Spannungen in verschiedenen Regionen. Mit dem Kriegsausbruch stellt sich nun mehr denn je die Frage, wie die westliche Welt auf autoritäre und aggressive Regime reagieren sollte.

Die Politik hat sich für Sanktionen und Aufrüstung entschieden.
Vor zehn Jahren haben wir gedacht, dass wir uns mit unseren Werten überall durchsetzen würden: Demokratie, soziale Marktwirtschaft, Freiheit für die Menschen – besser geht es doch nicht. Aber manche gehen andere Wege, und unsere moralische Stärke allein reicht offensichtlich nicht aus. Wir müssen wirtschaftlich stärker sein als autoritäre Staaten, damit die Menschen merken, in welchem System es ihnen bessergeht. Ich bin überzeugt: Unser Modell ist attraktiver für die Menschen, weil es soziale Standards erlaubt, vielfältige Bildung und Teilhabe, ein gutes Leben.

Die deutsche Wirtschaft basiert auf Export und Freihandel, und der stößt immer häufiger an Grenzen.
Sicher sind wir eine Exportnation, aber wir sind auch sonst internationaler geworden. In den letzten Jahren haben wir zunehmend Produktionen in den jeweiligen Ländern oder Regionen aufgebaut. Wir stellen die Güter dort her, wo sie nachgefragt werden. Das ist am besten zu sehen in China, wo wir in den vergangenen 30 Jahren beigetragen haben, 700 oder 800 Millionen Menschen aus der Armut zu holen. Wir sind nach China gegangen, haben Technologie transferiert und den Leuten Arbeit gegeben. Das ist auch ein Teil des Modells Deutschland.

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In China haben deutsche Unternehmen erheblich mehr investiert als in Russland. Was passiert, wenn sich der Konflikt der Chinesen mit den USA zuspitzt?
Auch da müssen wir moralisch und wirtschaftlich Stärke zeigen. Da die Welthandelsorganisation WTO derzeit nicht mehr richtig funktioniert, brauchen wir neue Handelsabkommen, um gemeinsame Regeln etwa auch im indopazifischen Raum zu definieren. So zeigen wir den Chinesen auch, dass wir stark sind.

Und wenn Xi Jinping Taiwan attackiert?
Die Chinesen haben in den letzten Jahrhunderten keine Kriege geführt. Sie nutzen ihre wirtschaftliche Stärke strategisch aus, etwa mit der Neuen Seidenstraße oder den Infrastrukturprojekten in Afrika. Da besetzen sie übrigens Lücken, die der Westen gelassen hat. Auch hier gilt: Wenn wir Abkommen mit afrikanischen Staaten schließen, dann können wir womöglich auch dort unsere Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten zur Geltung bringen.

In Russland hat das nicht funktioniert. Knapp 25 Milliarden Euro haben deutsche Firmen dort investiert – zumindest ein Teil davon muss wohl abgeschrieben werden.
Das ist möglich. Fakt ist: Im Moment muss die Welt zusammenstehen und die Sanktionen mittragen. Das passiert gerade und wird von der deutschen Wirtschaft selbstverständlich mitgetragen.

Der russische Markt ist tot für Unternehmen aus dem Westen. Wie geht es weiter mit Ihren Werken vor Ort?
Wir bauen in Moskau und St. Petersburg Müllfahrzeuge. Im Moment passiert da nichts, unsere Konten sind eingefroren. Wir wissen nicht, ob wir alle enteignet werden oder ob wir irgendwann weitermachen können. Wichtig ist erstmal, dass das Blutvergießen aufhört. Dann können wir uns irgendwann auch wieder um unser Geschäft und die Menschen kümmern. Russland ist ja mehr als Putin.

Der Unternehmer Arndt Kirchhoff ist ehrenamtlicher Unternehmerpräsident in NRW sowie Vizepräsident des Verbandes der Autodindustrie.
Der Unternehmer Arndt Kirchhoff ist ehrenamtlicher Unternehmerpräsident in NRW sowie Vizepräsident des Verbandes der Autodindustrie.

© FUNKE Foto Services

Wie betroffen ist Kirchhoff insgesamt?
Wir haben 50 Produktionsstandorte in 20 Ländern auf fünf Kontinenten. In der Nähe von Posen steht aktuell die Produktion in einem unserer Werke in Polen, weil unser Kunde Volkswagen vor Ort nicht mehr produziert. Es fehlen Teile, auch aus der Ukraine. Unsere anderen polnischen Werke arbeiten noch, weil die an verschiedene Autohersteller liefern.

Ohne Einschränkungen?
Von Montag bis Donnerstag wird normal gearbeitet, Freitag ist Kurzarbeit. Das gilt auch für unsere Standorte in Ungarn und Rumänien, weil die Autohersteller derzeit alle eingeschränkt produzieren, da es Probleme mit Vorprodukten gibt.

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Erst Corona, dann der Krieg: Kann die globalisierte Wirtschaft noch mit diesen wackeligen Lieferketten leben?
Wir haben gemerkt, wie verletzlich die Ketten sind und justieren uns neu, indem wir zum Beispiel die Zahl der Lieferanten erhöhen. Grundsätzlich müssen die Lieferketten robuster werden. Ferner sollten wir gewisse Güter zumindest in Europa produzieren. Dazu gehören Schlüsseltechnologien und Medikamente, übrigens auch einfache, aber für unsere Versorgung wichtige Produkte wie etwa Schutzmasken.

Das befreit uns nicht aus der Rohstoffabhängigkeit.
Jetzt ist die große Frage, wo wir die wichtigsten Stoffe besorgen können auf der Welt. Und wie schnell wir sie bekommen. In der Industrie gibt es verschiedene Taskforces, die sich damit beschäftigen.

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Ist das ohne Russland machbar?
Schwierig. Wir importieren ja nicht nur Öl, Gas und Kohle aus Russland und der Ukraine, sondern auch Titan und Nickel, Aluminium und Technische Gase. Zu möglichen Alternativen gehören Rohstoffe aus Europa, die wir aber häufig nicht aus der Erde holen dürfen. Schon bei Kies und Sand gibt es ökologische Vorbehalte. Wir können uns aber keine Denkverbote leisten, wenn wir uns stärker selbst versorgen wollen.

Ist Fracking-Gas aus Niedersachsen vorstellbar?
Das sollte man zumindest diskutieren. Womöglich ist das ökologisch sinnvoller, als Fracking-Gas aus Australien und den USA mit LNG-Tankern nach Europa zu verschiffen.

Für die Umstellung der Industrie auf Klimaneutralität wird enorm viel Strom respektive Wasserstoff gebraucht. Wie kann das funktionieren, wenn die Energiepreise durch die Decke gehen?
So schlimm es klingt, aber der Krieg macht die Notwendigkeiten auf brutale Weise sichtbar: Den Ausbau der Erneuerbaren beschleunigen, auch durch viel schnellere Genehmigungszeiten. Kurzfristig brauchen wir Versorgungssicherheit, zugleich müssen wir mittelfristig mit hohem Tempo eine größere Unabhängigkeit von Energielieferanten erreichen.

Das wird viele Jahre dauern.
Wir müssen schneller werden. Zum Beispiel bei der Infrastruktur. Intelligente Netze ermöglichen Energieeinsparungen. Wenn wir den Stromfluss mithilfe smarter Netze managen, lässt sich viel sparen. Die ewigen Planungs- und Genehmigungszeiten können wir uns nicht mehr leisten. Tesla in Brandenburg ist ein gutes Beispiel für Tempo. So arbeiten übrigens viele Familienunternehmen: Wir fangen bereits an, wenn es vorläufige Genehmigungen gibt, sonst verlieren wir zu viel Zeit.

Haben Sie den Eindruck, dass die Ampel- Regierung mehr Geschwindigkeit bringt?
Bis Jahresende will Robert Habeck die Gesetze so weit geändert haben, dass wir Geschwindigkeit aufnehmen können auf allen Verwaltungsebenen. Ja, alles in allem habe ich bislang einen guten Eindruck von der Arbeit der Ampel.

Teilen Sie die Einschätzung von Habeck, dass wir ohne russisches Gas nicht wirtschaften können?
Kurzfristig kommen wir ohne das Gas nicht klar. Der Schaden, den wir bei uns anrichten würden, wäre möglicherweise größer als der Schaden, den wir bei Putin anrichten. Wir brauchen das russische Gas nicht unbedingt für die Heizung, das kriegen wir notfalls auch über andere Bezugsquellen noch hin. Wir brauchen die russischen Gasmengen derzeit aber noch zwingend als Prozessgas in vielen Bereichen unserer Industrie, da gibt es keine ausreichenden Alternativen. Kappen wir hier russische Lieferungen, dann reden wir über massive Wohlstands- und Arbeitsplatzverluste im ganzen Land.

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Ist dieses Jahr mit Blick auf die Konjunktur überhaupt noch zu retten?
Es hatte ja gut begonnen, die Auftragseingänge waren im Januar so hoch wie lange nicht mehr, die Bücher sind voll. Doch wir konnten vieles nicht abarbeiten, weil gleichzeitig die Lieferzeiten immer länger werden. Das ist durch den Krieg wahrlich nicht besser geworden. Wenn jetzt die Verbraucher auch wegen der hohen Energiepreise weniger konsumieren, dann kriegen wir mindestens eine Delle.

Und die Unternehmen?
Die überlegen natürlich, welche Investitionen jetzt getätigt werden und welche man schiebt. Vielen energieintensiven Unternehmen schmelzen die Gewinne weg wie die Butter in der Sonne, oder sie rutschen bereits tief in die roten Zahlen. Mithilfe der KfW und Landesbürgschaften wie zum Beispiel in NRW kann zwar kurzfristig Liquidität gesichert werden, die strukturellen Probleme werden dadurch aber nicht gelöst.

Wo bleibt die „Allianz für Transformation“, die die Ampel als ein Modernisierungsbündnis mit Wirtschaft und Gewerkschaften schmieden will?
Das ist durch den Krieg in den Hintergrund geraten, was jeder versteht. Mit der Allianz wollen wir schneller werden und zum Beispiel den Einsatz von Wasserstoff ermöglichen. Das muss man koordinieren, um einen beschleunigten Einstieg in die Transformationsthemen zu bekommen. Die Allianz sollte vom Kanzleramt gesteuert werden, wir stehen bereit.

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