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Reiner Hoffmann, Vorsitzender Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB).

© Marius Becker/dpa

DGB-Chef zu Folgen des Kriegs: „Ganz Europa könnte in eine tiefe Rezession fallen – das wäre im Sinne Putins“

Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann spricht über die hybride Kriegsführung Wladimir Putins, die Gefahren eines Gas-Embargos und Olaf Scholz.

Herr Hoffmann, wird der Krieg das beherrschende Thema sein am 1. Mai?

Ja, und nicht nur in Deutschland. Überall in Europa werden Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter einen sofortigen Waffenstillstand fordern. Putin hat nicht nur die Ukraine, sondern auch die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung und die Demokratie angegriffen. Dazu beziehen wir klar Stellung.

Die russischen Gewerkschaften auch?
Es gibt in Russland zwei Gewerkschaften, die auch Mitglied im Internationen Gewerkschaftsbund (IGB) sind. Dazu gehört die zehn Millionen Mitglieder starke FNPR, eine absolut Putin-treue Organisation, sowie die kleinere, unabhängige Gewerkschaft KTR.

Haben Sie Kontakt zu FNPR?
Ja. Vor rund 20 Jahren haben wir die Organisation im Internationalen Gewerkschaftsbund aufgenommen. Damals war die FNPR auf Reformkurs und hat zum Beispiel in Belarus geholfen, unabhängige Gewerkschaften aufzubauen. Drei Tage nach Ausbruch des Krieges konnte ich Ende Februar mit dem FNPR-Vorsitzenden Michail Shmakov, den ich seit 25 Jahren kenne, in einer Videokonferenz sprechen. Das war entsetzlich.

Was hat er gesagt?
Die militärische Operation habe das Ziel, die Faschisten und Nazis in Kiew zu Fall zu bringen.

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Und Ihre Reaktion darauf?
Ich habe ihm gesagt, dass diese Aussage eine Verunglimpfung des Holocaust ist. Krieg als Mittel der Politik einzusetzen, ist für alle Gewerkschafter auf der Welt völlig inakzeptabel. Das Mindeste ist die gemeinsame Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand, doch darauf wollte sich Shmakov nicht einlassen.

Wie hat er argumentiert?
Erst mal müssten alle Atomkraftwerke in der Ukraine sichergestellt werden, weil von denen eine atomare Bedrohung für Russland ausgehe. Diese Haltung verträgt sich nicht mit den Werten der internationalen Gewerkschaftsbewegung. Daher muss der FNPR als Mitglied im IGB suspendiert werden.

Gibt es Beziehungen zu ukrainischen Gewerkschaften?
Ja. Wir unterstützen die, soweit wir das können. Die sagen uns ganz klar: Wir verteidigen unser Land und brauchen dafür eure Unterstützung. Auch militärisch. Das bringt bei uns Positionen ins Wanken, die wir als Antifaschisten und als Friedensorganisation in den vergangenen 70 Jahren vertreten haben.

Heißt es jetzt auch beim DGB „Frieden schaffen mit schweren Waffen“?
Es geht um die Verteidigung von Demokratie und Freiheit in Europa, weil die hybride Kriegsführung Putins auch die Destabilisierung und Spaltung Europas zum Ziel hat. Deshalb hat er für Bulgarien und Polen die Gaslieferungen gestoppt. Unsere Aufgabe ist es, der Ukraine so gut es geht zu helfen.

Auch mit Panzern?
Dauerhaften Frieden erreicht man nicht mit militärischer Gewalt. Den Selbstverteidigungswillen der ukrainischen Bevölkerung können wir aber nicht ignorieren. Deshalb muss man sie unterstützen, damit sie ihr Land, ihre Bevölkerung schützen können. Aber ohne dabei das Risiko einer weiteren Eskalation einzugehen. Deshalb finde ich das bedachte Vorgehen des Bundeskanzlers richtig. Und auch die Ablehnung eines Gas-Embargos.

Der Sozialdemokrat Reiner Hoffmann, hier im Bild mit Annalena Baerbock, hat ein gutes Verhältnis zu den Grünen,
Der Sozialdemokrat Reiner Hoffmann, hier im Bild mit Annalena Baerbock, hat ein gutes Verhältnis zu den Grünen,

© REUTERS

Also weiter Geschäfte machen mit einem Kriegsverbrecher?
Wir laufen Gefahr, Opfer der hybriden Kriegsführung zu werden, wenn wir in eine Wirtschaftskrise stürzen, die unsere Möglichkeiten, auch zum Beispiel beim Wiederaufbau der Ukraine, massiv einschränkt. Ganz Europa könnte in eine tiefe Rezession fallen mit Massenarbeitslosigkeit und sozialen Verwerfungen – das wäre ganz im Sinne Putins.

Haben Sie auch eine positive Botschaft, wenn Sie am 1. Mai am Brandenburger Tor zur Arbeitnehmerschaft reden?
Europa rückt wegen des Krieges enger zusammen. Und wir werden noch schneller die erneuerbaren Energien ausbauen, um unabhängiger zu werden. Die Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft beschleunigt sich. Diesen Weg der Veränderung bekommen wir nur hin, wenn Akzeptanz da ist und eine sichere Perspektive für die Menschen. Das wird das Thema der nächsten zehn Jahre sein: Die sozialverträgliche Gestaltung der Transformation. In Deutschland und Europa.

„Es gibt Fortschritte im europäischen Sozialrecht“

Welche Rolle spielt die EU?
Vor fünf Jahren wurde von der Kommission die „Säule sozialer Rechte proklamiert“. Jetzt macht Brüssel ernst: Wir bekommen eine europäische Mindestlohnrichtlinie; es wird eine Richtlinie geben zur Gestaltung von Plattformarbeit, in der geregelt ist, wer als Arbeitnehmer und wer als Arbeitgeber agiert. Und es gibt eine Richtlinie zur Entgelttransparenz, die wichtig ist für Geschlechtergerechtigkeit. Alles in allem haben wir seit Langem mal wieder einen Fortschritt im europäischen Arbeits- und Sozialrecht.

Das klingt sehr optimistisch.
In der Pandemie haben wir einen Paradigmenwechsel erlebt, als alle nach Deutschland und unserer Kurzarbeit geguckt haben. Dann wurde ein europäisches 100- Milliarden-Euro Programm zur Unterstützung von Kurzarbeit in den Mitgliedsstaaten aufgelegt, zu 50 Prozent kreditfinanziert. Das sind nichts anderes als Eurobonds. Vor wenigen Jahren war das völlig undenkbar. Jetzt gehen wir in die Diskussion zur Reform der Fiskalkriterien, die uns helfen wird bei der Finanzierung der Transformation. Ohne dass ich die notwendigen Infrastrukturmaßnahmen europäisch angehe, wird die Transformation zur Klimaneutralität nicht gelingen.

„Die Ampel hat uns zugehört"

Als DGB-Vorsitzender müssten Sie sagen, ohne mehr Mitbestimmung kann die Transformation nicht gelingen.
Das tue ich doch bei jeder Gelegenheit, auch am 1. Mai. Und die Ampel hat uns zugehört und sich dazu auch einiges vorgenommen: Die Vorhaben zur Stärkung der Tarifbindung im Koalitionsvertrag sind beachtlich, zum Beispiel bei der Ausschreibung des öffentlichen Personennahverkehrs. Busse und Bahnen dürfen künftig nur noch Unternehmen fahren, die nach Tarif zahlen. Und die Koalition will das Betriebsrätemodernisierungsgesetz evaluieren - da kann nichts anderes rauskommen, als eine Modernisierung der Betriebsverfassung, die in diesem Jahr 50 Jahre alt wird und nicht auf der Höhe der digitalen Zeit ist.

Macht die FDP mit?
Ich bin optimistisch. Die FDP ist nicht die FDP von Westerwelle oder Rösler.

Und die SPD steht wieder an der Seite des DGB nach dem langwierigen Streit um die Agendapolitik?
Als Einheitsgewerkschaft arbeiten wir mit allen demokratischen Parteien zusammen. Das Verhältnis zur SPD ist wieder sehr stabil. Die Entkrampfung begann unter dem Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel und der Arbeitsministerin Andrea Nahles. Heute gibt es wieder wechselseitigen Respekt und unsere Anliegen werden aufgegriffen.

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Auch Sie konnten den Mitgliederschwund nicht stoppen: Als sie ins Amt kamen, hatte der DGB 6,1 Millionen Mitglieder, heute sind es 5,7 Millionen.
Unter dem Schwund leiden die meisten der acht DGB-Gewerkschafen. Der Trend hat sich jedoch abgeschwächt. Ich sehe vor allem strukturelle Ursachen, die uns die Mitgliedergewinnung schwer machen. Überall, wo es sehr kleinteilige Betriebe und Arbeitsorte gibt, etwa im Handwerk oder der häuslichen Pflege, haben wir keine Betriebsräte, Jugendvertreter und Vertrauensleute. Der Weg in eine Gewerkschaft verläuft aber überwiegend über persönliche Kontakte. Selbst bei Online-Beitritten geht dem zumeist ein persönlicher Kontakt voraus. Als ich Anfang der 1970er Jahre in der Ausbildung war, bin ich über persönliche Ansprache in der Gewerkschaft gelandet. Das gelingt heute nicht mehr so leicht.

In den guten alten Zeiten…
Es gibt noch einen gravierenden Unterschied. Damals studierte rund ein Viertel der Schulabgänger, drei Viertel wählten eine berufliche Ausbildung. Heute geht gut die Hälfte in ein Studium, aber an der Uni oder Fachhochschule gibt es keinen Betriebsrat, keine Gewerkschaft und keinen Tarifvertrag.

Yasmin Fahimi sitzt noch für die SPD im Bundestag. Wenn sie am 9. Mai zur DGB-Vorsitzenden gewählt wird, legt sie das Mandat nieder.
Yasmin Fahimi sitzt noch für die SPD im Bundestag. Wenn sie am 9. Mai zur DGB-Vorsitzenden gewählt wird, legt sie das Mandat nieder.

© IMAGO/Future Image

Das muss nicht zwangsläufig zulasten des Engagements und der Solidarität gehen.
Gewerkschaften sind ja vor allem Emanzipationsorganisationen. Aufgrund des Fortschritts und des Wohlstands gibt es mehr Vielfalt – in der Arbeit, in der Freizeit, bei der Gestaltung des Lebens überhaupt. Das Kollektiv ist schwächer geworden im Zusammenhang mit der Wohlstandsentwicklung, der Individualisierung und der Vielfalt der persönlichen Präferenzen. Aus Vielfalt Einheit herstellen in der gewerkschaftlichen Arbeit – das ist heute viel anspruchsvoller, als in einer Fabrik 5000 Arbeiter zu organisieren.

Dann hinterlassen Sie den DGB in einer prekären Verfassung?
Im Gegenteil. Das Konzept der Einheitsgewerkschaft hat sich bewährt und ist so stark wie seit Jahren nicht mehr. Heute haben wir einheitliche Positionen unter den acht Gewerkschaften bei wichtigen Themen wie der Steuer- und Energiepolitik oder der Rente. In der Pandemie konnten wir bei der Bewältigung der Folgen wichtige Maßnahmen für die Menschen durchsetzen, etwa die Verlängerung und Erhöhung des Kurzarbeitergeldes, Lohnersatzleistungen nach dem Infektionsschutzgesetz und vieles mehr. Die Bedeutung der Sozialpartner und damit auch des DGB für unsere Demokratie und den Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft ist unumstritten.

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