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Handwerk und Industrie gehören zu dem Teil des Mittelstands, in dem die Einkommen zuletzt gestiegen sind.

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Der Mittelschicht geht es besser: Höhere Einkommen gegen die Abstiegsangst

Verteilungsbericht der Böckler-Stiftung: Arbeitsplätze werden sicherer, prekär Beschäftigte leiden am stärksten unter der Pandemie.

Die Mittelschicht hierzulande wird weniger von Abstiegsängsten geplagt, weil die Einkommen gestiegen und die Sorgen um den Arbeitsplatz geschrumpft sind. „Die Angst vor Arbeitslosigkeit hat sich zwischen 2010 und 2019 auf noch 30 Prozent fast halbiert“, heißt es bei der gewerkschaftseigenen Böckler- Stiftung, die am Mittwoch einen neuen Verteilungsbericht vorstellte. Nach der Finanzkrise und zumal in den starken Wachstumsjahren von 2014 bis 2018 seien die Mittelschichts-Einkommen spürbar gewachsen. Diese Entwicklung sei ein wesentlicher Faktor dafür, dass die Einkommensungleichheit zwischen 2016 und 2018 leicht zurückgegangen ist, „auch wenn sie weiterhin größer ausfällt als Anfang der 2010er Jahre und erst recht stärker ist als noch in den 1990er Jahren“, heißt es im Bericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Böckler-Stiftung.

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 "Bruchlinien" in der Gesellschaft

„In den 2000er Jahren waren Abstieg und Schrumpfung der Mittelschicht ein häufiges Thema. In den späteren 2010er Jahren hat sich ihre Situation entspannt“, meinte Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI. Selbst in Zeiten internationaler Unsicherheiten und zunehmender Globalisierung seien sinkende Arbeitslosenzahlen, verbesserte Arbeitsbedingungen und höhere Einkommen möglich. Allerdings mache die Feinanalyse „Bruchlinien“ in der Gesellschaft erkennbar: Positive Einkommensentwicklung und stabile Perspektiven gibt es dort, wo die Beschäftigten „in die bewährten Strukturen des Arbeitsmarktes integriert sind“; dazu zählt das Institut sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, Tarifverträge und Mitbestimmung.

Zwölf Euro Mindestlohn

Die Situation in der unteren Mittelschicht sei dagegen „deutlich prekärer“. Kohlrausch rief die Ampelkoalitionäre deshalb zu Reformen auf, die ‚normale' Beschäftigung stärken und „den Wirkungskreis der sozialen Sicherung vergrößern“. Dazu sollte der Niedriglohnsektor verkleinert werden, und zwar durch einen höheren Mindestlohn, die Stärkung der Tarifbindung sowie die Ausweitung der sozialen Sicherung.

Minijobs bleiben

Auf eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro haben sich SPD, Grüne und FDP bereits verständigt. Die Liberalen machen das mit zum Preis nahezu unveränderter Minijobs: Die Grenze des sozialabgabefreien Einkommens wird nur auf 520 Euro erhöht. Arbeitsmarktpolitiker von SPD und Grünen, aber auch der Rat der Arbeitswelt hatten deutliche Einschränkungen der Minijobs angeregt, weil die bis zu sieben Millionen geringfügig Beschäftigten nicht nur keinen Sozialversicherungsschutz (etwa Kurzarbeitergeld) haben, sondern auch die Schaffung sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse verhindern und kaum als Brücke zu einem „normalen“ Job taugen.

Minijobber und überhaupt Haushalte mit geringem Einkommen hat die Pandemie bislang „mit Abstand" am stärksten getroffen, schreibt das WSI im Verteilungsbericht. Gut 62 Prozent der Erwerbspersonen-Haushalte mit Einkommen unter 1500 Euro netto haben wegen Corona Einkommen verloren, gefolgt von der unteren Mittelschicht (1500 bis 2000 Euro), in der 54 Prozent betroffen sind. „Zumindest für diesen Teil der Mittelschicht könnte sich die zuvor relativ gute Entwicklung in den Corona-Jahren umgekehrt haben“, schreibt die Böckler-Stiftung, was dann wiederum auch die Ungleichheit vertiefe.

Keine höheren Steuern

Zumindest mit Blick auf die Finanzpolitik wird sich daran auch in den kommenden vier Jahren nichts ändern: Die Ampel-Parteien wollen weder Steuern erhöhen (Spitzensteuersatz, Erbschaftsteuer), noch neue Steuern einführen (Vermögensteuer). Die 20 000 Unterschriften, die ein Bündnis von Netzwerk Steuergerechtigkeit, #taxmenow und Bürgerbewegung Finanzwende am Dienstag dem SPD-Vorsitzenden Norbert Walter- Borjans in die Hand drückten, dürften daran nichts mehr ändern. Im Rahmen der Kampagne „Steuerprivilegien kippen!“ fordert das Bündnis „ein Ende von Steuervorteilen für sehr reiche Menschen“. Unter anderem sollten Ausnahmen von der Erbschaftsteuer für große Vermögen abgeschafft werden „und die seit der Finanzkrise versprochene Finanztransaktionssteuer endlich kommen“. Mit der Abschaffung von Steuerprivilegien könne der Staat etwa 80 Milliarden Euro „für Zukunftsinvestitionen und Gerechtigkeit mobilisieren“.

Wirtschaft wirbt für Sozialquote von 40 Prozent

Die Spitzenverbände der Wirtschaft dagegen können gut leben mit der steuerpolitischen Zurückhaltung der Ampelpartner und konzentrieren sich nun auf Warnungen vor höheren Sozialausgaben. „Sozial ist nicht, wer das meiste Geld ausgibt. Eigenverantwortung zu stärken und Menschen zu befähigen – dies muss Sozialpolitik leisten“, meinen die Verbände und betonen die Notwendigkeit einer Obergrenze der Sozialversicherungsbeiträge von 40 Prozent, die in der vergangenen Legislaturperiode galt. „Ohne Reformen droht bis 2040 ein Beitragsanstieg auf 50 Prozent.“ Die Verbände plädieren neben dem Verzicht auf Ausgabenprogramme für eine „Flexibilisierung der Altersgrenze“.

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