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Viele syrische Kinder, die heute in den Zeltschulen lernen, sind bereits in den Camps im Libanon zur Welt gekommen.

© zeltschule.org

Weltflüchtlingstag – Syrische Kinder im Libanon: „Zehntausende, die offiziell nicht existieren“

Flüchtlingshelferin Jacqueline Flory über Syriens verlorene Kinder – und Schulen, die Mut machen.

Jacqueline Flory ist Übersetzerin für Arabisch und leitet den Verein „Zeltschule e.V.“. Seit fünf Jahren baut sie im Libanon und in Syrien Schulen für syrische Geflüchtete. Mehrmals im Jahr besucht sie die Camps gemeinsam mit ihren zwei Kindern. Sie erzählt von den dramatischen Umständen, unter denen die Syrer:innen in den sogenannten wilden Camps dort leben und darüber, wie wichtig Bildung bereits für die Kleinsten ist.

Frau Flory, können sich die geflüchteten syrischen Kinder im Libanon überhaupt noch an ihr Zuhause erinnern?
Selten. Nur die wenigsten wissen, wie es war, mal ein Kinderzimmer und ein Bett gehabt zu haben. Die meisten, die ich dort treffe, haben entweder keine Erinnerung an Syrien oder sie sind bereits in den Camps zur Welt gekommen. Das heißt auch, dass jegliche Zahl über Minderjährige, die sich im Libanon aufhalten, immer nur eine Schätzung sein kann.

Weil inzwischen so viele in den Flüchtlingslagern geboren wurden?
Es sind Zehntausende, möglicherweise Hunderttausende Kinder, die offiziell gar nicht existieren. Sie werden nirgends registriert und haben keine Pässe. Auch wenn sie irgendwann nach Syrien zurückkehren, bleiben sie staatenlos.

Wächst in den libanesischen Camps eine verlorene Generation heran?
Die Zukunft dieser Kinder steht auf dem Spiel. Viele haben noch nie eine Schule besucht. In der Bekaa-Ebene gibt es ungefähr zweitausend Flüchtlingslager, die von keiner Organisation betreut werden. Staatliche Hilfe gibt es nicht. Die Menschen sind völlig auf sich allein gestellt.

In diesen sogenannten wilden Camps bauen sie seit fünf Jahren ihre Zeltschulen.
Damit ist es aber nicht getan. Wir müssen die Familien mit Lebensmitteln, Wasser, Kleidung und Medikamenten versorgen. Würden wir nur Schulen bauen, stünden sie leer, weil die Kinder den ganzen Tag bei der Feldarbeit sind. Bereits 2011, als die ersten Flüchtlinge kamen, führte die libanesische Regierung ein Arbeitsverbot für Syrer ein, um den Libanesen die Angst zu nehmen, dass Geflüchtete ihnen die Jobs wegschnappen. Mittlerweile ist es zwar möglich, eine Erlaubnis für gewisse Berufe zu beantragen, in der Gastronomie etwa oder in der Baubranche, aber sie kostet 3000 Dollar pro Jahr. Eine absurde Summe, die sich niemand in den Camps leisten kann. Deswegen gehen die Kinder arbeiten.

Jacqueline Flory hat 2016 die erste Zeltschule im Libanon gegründet.
Jacqueline Flory hat 2016 die erste Zeltschule im Libanon gegründet.

© zeltschule.org

Für Minderjährige gilt das Verbot nicht. Was genau machen sie denn?
Die Bekaa-Ebene ist ein sehr fruchtbares Land. Hier wachsen Kartoffeln, Oliven, Zitronen, Gurken, Bananen bis hin zu Drogen. Das ganze Jahr über muss gesät, geerntet und gedüngt werden. Morgens um sechs fahren in den Camps Lastwagen vor. Alle Kinder, die danach aussehen, als könnten sie Körbe voller Kartoffeln auf dem Rücken tragen, werden in die Laster eingeladen und zu den Feldern gefahren. Dort schuften sie zehn bis zwölf Stunden, häufig in sengender Hitze. Am Abend werden sie in ihre Camps zurückgebracht und bekommen drei Dollar für einen Arbeitstag. Von diesem Geld nimmt ihnen der Campbesitzer einen großen Teil für die Miete ab, also für das kleine Stück Boden, auf dem ihr Wohnzelt steht. Vom Rest wird das Nötigste gekauft, damit die Familie überleben kann. Am nächsten Tag geht es von vorne los.

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Wie alt sind diese Jungen und Mädchen?
Offiziell nicht jünger als neun, aber ich habe schon mit Siebenjährigen gesprochen, die auf den Feldern gearbeitet haben. Deshalb ist es so wichtig, dass wir alle im Camp versorgen, damit die Kinder wirklich zur Schule gehen können.

Wie ist die Lage in den Camps nach der Explosion in Beirut im vergangenen Jahr?
Dramatisch! Der Staat ist bankrott. Es gibt kaum noch Strom und Benzin. Das kann man nicht vergleichen mit den gut organisierten Lagern etwa in Jordanien. Es wäre die Aufgabe des UNHCR, dafür zu sorgen, dass die Kinder hier lernen, statt zu arbeiten, aber kaum jemand kümmert sich. Wir waren empört über die Zustände in Moria. In den Camps Libanons leben Syrer seit zehn Jahren genauso.

Macht Sie das wütend?
Ja! In den vergangenen zehn Jahren hat die Uno immense Summen an die libanesische Regierung gezahlt. Millionen Euro sind geflossen für syrische Kinder, die eine staatliche Schule im Libanon nie von innen gesehen haben.

Die wilden Camps in der Bekaa-Ebene.
Die wilden Camps in der Bekaa-Ebene.

© zeltschule.org

2015 startete Unicef dort das „Back to school“- Programm für Geflüchtete.
Passiert ist seitdem wenig. Die Regierung hat ein paar Busse mit 50 Sitzplätzen gekauft, die Camps mit 500 Schulkindern anfahren und am Nachmittag medienwirksam in eine Schule bringen. Das hat mit Bildung nicht viel zu tun.

In den Sommerferien 2016 sind Sie mit Ihren zwei Kindern hingeflogen und haben dort die erste Zeltschule für 120 Flüchtlinge gegründet. Wie viele Schulen gibt es heute?
17 im Libanon und 17 in Syrien. Aktuell haben wir 7000 Jungen und Mädchen zwischen fünf und 14 im täglichen Unterricht. Damit decken wir die neunjährige Schulpflicht ab. Mehr als 1800 sind mit der Schule fertig. Wir hätten nie gedacht, dass das mal so ein großes Projekt wird.

Wie schaffen Sie es, dort durchzukommen?
Wir sind rein privat finanziert und deswegen auch im Libanon unabhängig tätig. Wir lehnen jegliche Zusammenarbeit mit der korrupten Regierung ab. Für unsere Camps kaufe ich direkt bei den Händlern in der Bekaa-Ebene ein.

Wer unterrichtet die Kinder in den Zeltschulen?
Syrische Lehrer, die auch geflohen sind und hier leben. Sie unterrichten Mathe, Arabisch, Englisch, Naturwissenschaft, und Musik.

Und Religion?
Wir wollen religiös neutral bleiben, deshalb bekommen unsere Kinder keinen Koran-Unterricht. Und wir haben auch keinen Sport, weil es dafür nirgendwo Platz gibt in den Camps.

In den Zeltschulen im Libanon lernen Kinder zwischen fünf und 14 Jahren.
In den Zeltschulen im Libanon lernen Kinder zwischen fünf und 14 Jahren.

© zeltschule.org

Gerade haben Sie eine neue Kampagne gestartet.
Wir wollen besonders begabten Kindern, die unsere Zeltschulen abschließen, den Besuch einer Privatschule im Libanon ermöglichen. Dort können sich auch Geflüchtete anmelden. Solange das Geld kommt, ist es den Libanesen egal, wo die Kinder herkommen.

Sie unterstützen nicht nur die Kinder, sondern auch erwachsene Frauen.
In unseren Camps leben Menschen aus allen sozialen Schichten: Ärzte und Ingenieure, aber auch Bauern und Beduinen. 30 Prozent der Frauen haben nie lesen und schreiben gelernt. Deshalb bieten wir Alphabetisierungskurse für Mütter an.

Zu ihrem Programm gehört auch eine spezielle Witwenhilfe.
Viele Frauen leben allein mit ihren Kindern. Aber in jeder Familie wird über den Tod gesprochen. Verlust ist überall greifbar in den Camps.

Wann waren Sie das letzte Mal da?
An Pfingsten. Im August sind wir auch wieder dort. Die Pandemie hat es uns eine Zeit lang sehr schwer gemacht. Jetzt geht’s wieder, Gott sei Dank!

Gab es Schulschließungen wegen Corona?
Ja, wir mussten viermal auf staatliche Verordnung jeweils für ein paar Wochen schließen. Das war schrecklich für die Kinder. Wir haben mehrere Tausend Sim-Karten an Eltern verteilt, damit Lehrer Whatsapp-Videos an alle Schüler schicken konnten. Abends wurden von Zelt zu Zelt Arbeitsblätter eingesammelt. Die Kleinen hatten nichts zum Spielen, außer Müll und Steine. Es war ganz wichtig für die Kinder zu wissen, dass es nur vorübergehend ist. Ich hätte es selbst nie für möglich gehalten, was für eine heilende Wirkung die Schule für sie hat. Allein dieses Gefühl von Normalität und Struktur gibt ihnen unheimlich viel Auftrieb.

Die Kleinen in den Camps spielen mit Müll und Steinen.
Die Kleinen in den Camps spielen mit Müll und Steinen.

© zeltschule.org

Die Zeltschulen, die jetzt wieder auf sind, müssen aber ein Provisorium bleiben.
Wir dürfen keine Bäume pflanzen, nicht einmal ein kleines Gemüsebeet anlegen, weil das dann nicht mehr mobil wäre. Der Libanon will unbedingt vermeiden, dass die Syrer bleiben, wie die geflüchteten Palästinenser, die seit Jahrzehnten hier leben. Syrische Flüchtlinge sollen nach dem Krieg zurück in ihr Land.

Ein Ende des Konflikts ist nicht in Sicht.
Für die Menschen in unseren Camps reicht das aber nicht. Die meisten von ihnen sind Sunniten und politische Geflüchtete, die aktenkundig geworden sind als Assad-Gegner. Sie brauchen einen Regimewechsel – und der liegt noch in sehr viel weiterer Ferne.

Was bedeutet das für Ihre Arbeit in den kommenden Monaten?
Wir sind darauf eingestellt, dass wir unsere libanesischen Schulen noch lange brauchen werden und die Menschen in den Camps weiter unterstützen müssen. Gleichzeitig legen wir seit geraumer Zeit den Fokus darauf, neue Schulen in Syrien zu errichten. Dort gibt es mehrere Millionen Binnenflüchtlingskinder, die ebenfalls seit Jahren nicht mehr unterrichtet werden. Wir haben bereits 17 Schulen etabliert und hoffen, dass dort später auch die Rückkehrer aus Libanon integriert werden können. Es wird bestimmt ein Jahrzehnt dauern, bis die Schulinfrastruktur in Syrien nach dem Krieg wieder aufgebaut wird.

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