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Teilnehmer einer Demonstration fordern, das Werbeverbot für Abtreibungen abzuschaffen

© picture alliance/dpa

Rechtspolitik der neuen Koalition: Was Modernisierung ist, muss erst noch verhandelt werden

Die Pläne für Recht, Justiz und Grundgesetz sind erfreulich. Aber Diskussionen um Suizidhilfe und Abtreibung zeigen: Konflikte werden bleiben. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

An den Koalitionsplänen für Recht, Justiz und Grundgesetz (GG) ist vieles erfreulich; hervor sticht, Jugendliche den Bundestag wählen zu lassen. Das Ganze wirkt wie ein überfälliges Modernisierungsprogramm. Dass es Zuspruch verdient, bedeutet indes nicht, dass Modernisierung Probleme lösen oder Konflikte befrieden kann. Sie ist ein Versprechen; sie muss sich bewähren.

Ein Beispiel für diese Ambivalenz dürfte die jetzt vielfach begrüßte und hochsymbolische Streichung von Paragraf 219a Strafgesetzbuch sein, der Werbung für Schwangerschaftsabbruch verbietet. Mit ihm belangt werden können auch Ärztinnen und Ärzte, die sachlich über ihr medizinisches Angebot informieren. Das wird zu Recht als bevormundend empfunden.

Andererseits steht der Abtreibungsparagraf 218, den das Werbeverbot flankieren soll, aus offenbar wohlerwogenen Gründen nicht auf dem Streichprogramm. Abschaffung plus Nichtabschaffung bedeutet, dass für eine Straftat geworben werden darf. Hier steuert die Modernisierung in die Grauzone.

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Ein anderes Thema um Leben und Tod: Auch in der Suizidhilfe will die neue Koalition regeln, was die alte liegen ließ. Der Modernisierungsdruck kommt hier vom Bundesverfassungsgericht. Mit seinem Urteil von 2020, dass es ein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben gibt, rührt es an religiöse Überzeugungen, sittliche Traditionen, kulturelle Übereinkünfte.

Wie stark, zeigt sich an einem erst am Donnerstag veröffentlichten Beschluss. Darin hält es das Karlsruher Gericht zumindest für möglich, dass Strafgefangene einen Anspruch auf einen humanen, selbstbestimmten Tod in der Haft geltend machen können (Az.: 2 BvR 828/21).

Es liegt auf der Hand, dass der Staat ihnen in irgendeiner Form dabei helfen müsste; etwa, um Medikamente zu beschaffen oder professionellen Sterbehelfern Einlass zu gewähren. Zwar ist in Deutschland die Todesstrafe abgeschafft (Art. 102 GG), es könnte auf diese Weise aber künftig zu einer staatlichen Aufgabe werden, Bestraften in den Tod zu helfen.

Selbst-Exekutionen in Gefängnissen sind noch eine befremdliche Vorstellung

Gegenwärtig sind das noch befremdliche Vorstellungen: Selbst-Exekutionen in Gefängnissen unter amtlicher Aufsicht. Oder Kliniken, die öffentlich besonders schonende oder besonders günstige Methoden anpreisen, um Schwangerschaften zu beenden.

Man wird in beiden Fällen sagen können, dass solche Erscheinungen Ausdruck von Selbstbestimmung und deshalb hinzunehmen sind; dass sich hier eine Gesellschaft von staatlich sanktionierten Tabus emanzipiert.

Doch sichtbar wird auch, dass dafür ein Preis zu zahlen ist. Und dass Selbstbestimmung ein wichtiges Prinzip ist, aber nicht die einzige Antwort auf alle ethischen Fragen.

So schön das Koalitionsprogramm aussieht, steht doch fest, dass sich Modernisierung nicht verordnen lässt, sondern verhandelt werden muss. Sie ist ein Prozess. Sie wird auch nicht ohne Widerspruch bleiben. Die Welt ist voller Widersprüche, die Modernisierung ist es auch.

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