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Katrin Langensiepen ist die erste weibliche Europaabgeordnete mit sichtbarer Behinderung.

© promo

„Man prophezeite mir Chancenlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt“: EU-Abgeordnete Katrin Langensiepen fordert echte Inklusion

Immer noch zu viele behinderte Menschen lernen, leben und arbeiten in Sonderwelten. Das ist ein Problem. Ein Gastbeitrag zum Tag der Menschen mit Behinderung.

Katrin Langensiepen zog 2019 in das Europaparlament und vertritt dort Niedersachsen und Bremen. Sie ist sozialpolitische Sprecherin für Greens/EFA und die einzige weibliche Europaabgeordnete mit sichtbarer Behinderung. Mit ihrer Stimme kämpft sie für ein grünes und inklusives Europa und setzt sich für die Themen Armutsbekämpfung, Grundsicherung und Wohnen ein. Im März 2021 hat das EU-Parlament mit großer Mehrheit für ihren Bericht zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf gestimmt. In diesem Beitrag präsentiert Katrin Langensiepen die wesentlichen Forderungen.

Nach der Schule sagte man mir, meine einzige Option wäre eine Ausbildung in einem Berufsbildungswerk. Die Vertragsbedingungen: 100 D-Mark Taschengeld, nach 22 Uhr keinen Ausgang mehr, einmal im Monat hätte ich nach Hause fahren dürfen. Ich lehnte ab. Die Institutionsleitung prophezeite mir: Chancenlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt.

Heute bin ich die einzige weibliche Abgeordnete mit Behinderung im Europäischen Parlament. Die Goldmedaille im Hürdenlauf – aber auch eine Geschichte, die zeigt, wie schnell Menschen aufgrund ihrer Behinderung in Schubladen gesteckt, „Karrieren“ vordefiniert und somit Lebenschancen verhindert werden. Hätte ich damals dieses Angebot angenommen, hätte ich wahrscheinlich mein ganzes Leben in einer Einrichtung verbracht, gemeinsam mit anderen Menschen mit Behinderungen, unsichtbar für den Rest der Gesellschaft. Doch nicht jeder hat die Möglichkeit und Kraft, „Nein“ zu sagen und sich auf dem ersten Arbeitsmarkt auszuprobieren. Das ist ein Problem.

„Geschütze Räume“ dürfen nicht Menschenrechte verletzen

Vor mehr als zehn Jahren haben die EU und ihre Mitgliedstaaten die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben. Trotzdem leben, lernen und arbeiten immer noch zu viele behinderte Menschen in Sonderwelten. Weniger als die Hälfte von „uns“ hat eine Anstellung. „Geschütze Räume“ mögen ihre Berechtigung haben, allerdings nicht, wenn sie die Regel sind und Menschenrechte verletzten.

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Allein in Deutschland arbeiten über 320 000 Menschen mit Behinderungen in Werkstätten, ohne Arbeitnehmer:innen Status, auf Basis eines Taschengeldes. Das verstößt klar gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) und das deutsche Arbeitsgericht haben auch hier klare Beschlüsse gefasst.

Bereits 2015 forderte die Uno in ihrem Staatenbericht von Deutschland, die Behindertenwerkstätten schrittweise auslaufen zu lassen. Segregierte Werkstätten würden „weder auf den Übergang zum allgemeinen Arbeitsmarkt vorbereiten, noch diesen fördern“.

Der Weg raus. Menschen mit Einschränkungen wollen oft nicht in segregierten Werkstätten arbeiten.
Der Weg raus. Menschen mit Einschränkungen wollen oft nicht in segregierten Werkstätten arbeiten.

© Getty Images

Tatsächlich schaffen weniger als ein Prozent der in Werkstätten beschäftigten Menschen den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt. Das ist bitter. Viele Eltern von behinderten Kindern berichten, dass die Berufsberatung die Arbeit in einer Werkstatt oft als einzige Option darstellt. Nach der Schule sei dies der natürlich vorgegebene Weg. Es liegt nicht nur am fehlenden Mindestlohn, dass viele nicht mehr in einer sogenannten Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) arbeiten wollen – behinderte Menschen wollen nicht nur oder ausschließlich unter behinderten Menschen arbeiten.

Werkstätten müssen ihrer Ursprungsaufgabe nachkommen

Wir sind in einem Zeitalter, in dem der Begriff „Diversity“ zu einem Trendbegriff geworden. Behinderte Menschen gehören dazu. Wir müssen alte Systeme neu denken, um gemeinsam neue Möglichkeiten zu schaffen. In meinem Bericht zu Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, der Anfang des Jahres mit großer Mehrheit im Europäischen Parlament abgestimmt wurde, stelle ich unterschiedliche Forderungen:

Erstens brauchen wir eine neutrale und geschulte Berufsberatung, die Menschen mit Behinderungen langfristig begleitet. Nicht jeder behinderte Mensch ist gleich. Nicht jeder kann Europaabgeordnete:r werden. Er oder sie sollten aber die Möglichkeit bekommen, es zu schaffen. Behinderte Menschen wissen genau, was sie können oder auch nicht.

Werkstätten müssen ihrer Ursprungsaufgabe, der „Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt“, nachkommen. Häufig haben sie gar kein Interesse daran, Menschen mit Behinderungen weiterzuvermitteln. Wer lässt schon seine besten Leute gehen? Dieses System muss überwunden werden.

Warum sind Praktika für behinderte Menschen nicht Pflicht für Betriebe?

Wir müssen Inklusionsunternehmen fördern, in denen behinderte Menschen einen sozialversicherungspflichtigen Vertrag haben. Und: Übergänge zwischen dem ersten und dem zweiten Arbeitsmarkt müssen flexibilisiert werden. Viele verzichten darauf, sich mithilfe des Budgets für Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt auszuprobieren, aus Angst ihre Rentenpunkte zu verlieren.

Statt dabei zuzuschauen, wie Unternehmen Ausgleichsabgabe zahlen, müssen wir Firmen unterstützen, die Schwerbehinderte einstellen wollen. Minderleistungen müssen vom Staat aufgefangen werden. Assistenz und Anpassungen vom Arbeitsplatz müssen unbürokratisch beantragt werden können. Wir brauchen zentrale Datenbanken, wo Unternehmen schnell und einfach qualifizierte Mitarbeiter:innen mit Behinderungen finden können. Warum ist es nicht Pflicht für Betriebe einer bestimmten Größe, einmal im Jahr ein Praktikum für einen Menschen mit Behinderung zu garantieren?

Natürlich hängt Inklusion mit vielen Lebensbereichen zusammen. Wenn die Stellenausschreibung nicht barrierefrei ist, werden Menschen mit Behinderung sie nicht lesen können. Wenn es keine barrierefreie Wohnung und keinen barrierefreien Nahverkehr gibt, wird ein Mensch mit Behinderung seinen Arbeitsplatz nicht erreichen können. Deshalb müssen die EU-Mitgliedstaaten die neue EU-Behindertenstrategie 2021–2030 ernst nehmen, um Teilhabe zu fördern.

Wir müssen dorthin, dass die Nachrichtensprecherin oder der Lehrer mit Behinderung kein Wunschkonzert sind, sondern eine Selbstverständlichkeit.

Katrin Langensiepen

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