zum Hauptinhalt
Ein pro-russisches Wandgraffito in der serbischen Hauptstadt Belgrad.

© Andrej Isakovic/AFP

Neutralität im Krieg ist oft scheinheilig: Die EU muss Staaten sanktionieren, die auf Putins Seite stehen

Deutschland und die EU könnten Länder konsequent sanktionieren, die Solidarität mit der Ukraine verweigern. Das erhöht auch den Druck auf Moskau. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

War’s das schon wieder mit der Hoffnung, dass sich Hungersnöte in Afrika und Asien verhindern lassen? Am Tag nach dem Abkommen, das Transportwege für den Export ukrainischen Getreides öffnen sollte, beschoss Russland die Hafenstadt Odessa.

Warum agiert Wladimir Putin so widersprüchlich? Er verfolgt Interessen, die sich gegenseitig ausschließen. Er will den Hebel in der Hand behalten, aber nicht als der Schuldige dastehen.

Man möchte hoffen, dass die ganze Welt ihn durchschaut und erst recht Partei gegen ihn ergreift. Doch darauf ist kein Verlass.

[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen.]

Die fünf Monate seit Putins Angriff auf die Ukraine haben gezeigt, dass Krieg neben dem Kampf um Gebiete auch ein Ringen um die öffentliche Meinung bedeutet. In einer idealen Welt wäre das Urteil so klar wie bei der Sondersitzung der UN-Generalversammlung im März.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Die klare Verurteilung des Kriegs ist die Ausnahme

141 Staaten verurteilten Russland damals. Nur fünf stimmten dagegen, neben Russland Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien - Staaten, die als Parias gelten.

Doch obwohl das Votum nur symbolische Bedeutung hatte, zogen 35 Länder es vor, sich zu enthalten, statt sich offen gegen Putin zu stellen. Darunter Indien, das sich zu den Demokratien zählt, und viele afrikanische Staaten.

Sie wollen nicht nett sein, sondern gefürchtet werden und Macht ausüben: Der russische Präsident Wladimir Putin (rechts) und sein türkischer Kollege Recep Tayyip Erdogan verhandeln über den Hungertod oder das Überleben vieler Menschen.
Sie wollen nicht nett sein, sondern gefürchtet werden und Macht ausüben: Der russische Präsident Wladimir Putin (rechts) und sein türkischer Kollege Recep Tayyip Erdogan verhandeln über den Hungertod oder das Überleben vieler Menschen.

© Mustafa Kamaci / TURKISH PRESIDENTIAL PRESS SERVICE / AFP

In der realen Welt ist jedes Land sich selbst das nächste – und die Grauzone derer, die sich nicht zwischen Russland und der Pro-Ukraine-Koalition entscheiden wollen, größer als die 35 Staaten. Im internationalen Jargon nennt man sie die „in betweens“ (die dazwischen).

Wie soll der Westen mit denen umgehen, die sich durchlavieren? Soll er Verständnis für die jeweilige Lage und Beweggründe zeigen oder diesen Staaten die Parteinahme abverlangen nach der Devise: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns?

Hallstein-Doktrin: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns

Nach der deutschen Teilung hatte die Bundesrepublik lange eine prinzipielle Politik verfolgt. Die „Hallstein-Doktrin“ stellte Staaten bis 1969 vor die Wahl: Wer die DDR anerkannte, verlor die Chance zur Kooperation mit dem Wirtschaftswunderland.

Mit der Entspannungspolitik veränderte sich das Kalkül von Kosten und Nutzen. Für die deutsche Wirtschaft wurde es lukrativer, auch mit Ländern zu handeln, die ideologisch auf Moskaus Seite standen. Mit den gegenseitigen Vorteilen ließ sich politisch mehr Einfluss nehmen als mit Isolierung als Strafe.

Mehr zum Ukraine-Krieg bei Tagesspiegel Plus:

Was sind die Lehren daraus für das Ringen um die Haltung der 193 Staaten der Erde im Ukrainekrieg? Für eine neue Doktrin – wer nicht auf Seiten der Ukraine steht, den boykottieren wir – ist die Weltlage zu komplex.

Deutschland und die EU können aber mehr tun, um Russland zu isolieren und um Putins Narrative zu widerlegen, darunter die Behauptung, westliche Sanktionen seien Ursache der Getreidekrise und global steigender Energiepreise.

Deutsche Außenpolitik setzt mehr auf Zuckerbrot als auf die Peitsche

Die deutsche und europäische Außenpolitik lässt sich zu sehr vom Gedanken leiten, man müsse unentschiedene Länder mit Belohnungen locken, um sie nicht an die Gegenseite zu verlieren. Sie scheuen sich, Druck auf die Lavierer auszuüben.

Russland oder China haben ihnen weniger zu bieten als Berlin und Brüssel. Sie drohen aber Ländern, die sich gegen sie stellen, mit Nachteilen. Warum den Druck nicht kontern?

Im Prinzip müsste man mindestens China sanktionieren und zwar nicht ein bisschen, sondern massiv. Die dortige globale Werkbank würde aber dazu führen, dass wir unsere Industrie und unseren Konsum damit völlig vergessen könnten, die Abhängigkeit von unzuverlässigen Partnern ist einfach zu groß geworden.

schreibt NutzerIn tizian2011

Viele Staaten geraten durch die Folgen des Kriegs in existenzielle Nöte, wie der Umsturz in Sri Lanka und die Sorge vor Hungersnöten in Afrika zeigen. Ihnen muss man helfen. Doch Staatschefs, die viel Geld vom Westen erhalten, kann man mit Entzug der Hilfe drohen, wenn sie jetzt nach Moskau pilgern.

Getreide aus der Ukraine kann viele Menschen vor Hunger retten - sofern es sicher ausgeführt werden kann.
Getreide aus der Ukraine kann viele Menschen vor Hunger retten - sofern es sicher ausgeführt werden kann.

© Patrick Pleul//dpa

EU-Kandidaten wie Serbien muss man sagen: Wer auf Putins Seite steht, mit dem verhandeln wir nicht über Beitritt. Es sollte auch nicht folgenlos bleiben, wenn Ungarn eine einheitliche Haltung der EU torpediert oder Indien das russische Öl, das der Westen boykottiert, zu billigeren Preisen kauft und so vom Krieg profitiert. Der Westen muss es nicht passiv hinnehmen, wenn Staaten, die doch seine Partner sein wollen, seine Sanktionspolitik unterlaufen.

Nur die Neutralen können vermitteln? Das ist ein Irrtum

Oft ist das angebliche Motiv, neutral zu bleiben, um eventuell als Vermittler zu dienen, eine scheinheilige Ausrede, um sich nicht entscheiden zu müssen. Die Türkei zeigt im Übrigen, dass Neutralität keineswegs eine Bedingung für eine Vermittlerrolle ist. Auch diese gängige Behauptung ist empirisch widerlegt.

Sie ist Putins Konkurrent in Syrien. Mit ihrer Drohnenhilfe für Aserbaidschan hat sie kürzlich Russlands und Armeniens Niederlage im Krieg um Berg-Karabach besiegelt. Dennoch akzeptiert Putin Staatschef Erdogan als Vermittler.

Deren zynische Machtpolitik kann kein Vorbild sein. Aber Deutschland und die EU dürfen ihre Hebel konsequenter nutzen, um die globale Front gegen den Aggressor Russland zu vergrößern.

Zur Startseite