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Polizisten führen einen Russen ab, der in Moskau gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine demonstriert.

© Alexander NEMENOV / AFP

Forderungen nach Einreiseverboten: Die europäischen Visa-Sperren für Russen treffen zumeist die Falschen

Die EU berät über einen Visa-Stopp für Russen. Kanzler Scholz sieht die Initiative kritisch – aus gutem Grund. Ein Gastbeitrag.

In der Europäischen Union gibt es umfassende Bestrebungen, die Vergabe von Schengen-Visa an russische Staatsbürger stark einzuschränken, wenn nicht zu stoppen. Eine Reihe von Staaten wie Tschechien oder Litauen hat bereits die Ausgabe von Touristenvisa eingestellt.

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Noch weiter gehend stellen baltische Staaten weitere Visa-Arten nicht mehr aus, darunter berufliche und humanitäre Einreiseerlaubnisse, mit denen unter anderem oppositionelle Russen zu Kriegsbeginn ihr Land verlassen haben. Ganz explizit empfehlen oppositionelle russische Webseiten politisch oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung in Russland verfolgten Schengen-Visa als Teil der Fluchtvorbereitung.

Die estnische Außenministerin Urmas Reisalu will dennoch ein europaweites Visumverbot für Russen durchsetzen und bekommt hierfür Schützenhilfe aus Lettland. Der Vorstoß soll Ende August auf einem Treffen der EU-Außenminister behandelt werden.

Angetrieben werden die Planungen für ein Einreiseverbot von der Auffassung, dass Russen nicht in Europa Urlaub machen können, während ihre Landsleute einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führen. Auch der ukrainische Präsident Selenskyj versucht die EU zu überzeugen, Russen die Einreise generell zu verweigern.

In einem Interview mit der Washington Post ging er sogar so weit, dass solche Beschränkungen auch für Russen gelten sollen, die ihr Land als Nichteinverstandene verlassen haben. „Egal was sie für Russen sind, schickt sie nach Russland zurück“ gab das Kiewer Staatsoberhaupt zu Protokoll. Er widersprach damit eigenen Äußerungen aus dem März, als er die Russen aufforderte, ihr Land zu verlassen, anstatt den Krieg mit Steuern zu finanzieren.

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Anders zum Thema denkt Bundeskanzler Scholz, der sich mit dem Gedanken eines Visa-Stopps „sehr schwer tut“. Für die russischen Staatsmedien sind Vorstöße für ein Einreiseverbot ein gefundenes Fressen.

Aktuell arbeiten sie daran, ihre Landsleute zu überzeugen, dass im Westen ein allgemeiner und undifferenzierter Russenhass herrsche, um die Bevölkerung vom antiwestlichen Kurs der eigenen Regierung zu überzeugen. Abweichler vom offiziellen harten Kurs soll so klar gemacht werden, dass sie im Westen nicht auf Verständnis hoffen können.

Wirklich bestürzt von den Plänen zum Einreisestopp sind in Russland Kriegsgegner und Sympathisanten der Opposition. Das von den Esten und Letten gelieferte Bild eines russischen Massentourismus in die EU entspricht schon seit der Covid-Pandemie nicht mehr der Realität.

Einfacher, weil visumfrei und günstiger gelangen russische Staatsbürger, denen es nur um einen oberflächlichen Urlaub geht, etwa in die Türkei oder nach Thailand. Wer zusätzlich den Moskauer regierungsnahen Medien glaubt, schreckt vor einer Reise nach Westen auch durch die Auffassung zurück, dort generell nicht mehr willkommen zu sein.

Reise nach Russland mit Strapazen verbunden

So sind die aktuellen Reisendenzahlen in die EU weit von denen vor der Corona-Pandemie entfernt. Wer in Russland die Strapazen einer Visumbeschaffung für ein EU-Land auf sich nimmt, glaubt mit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Kreml-Propaganda über Westeuropa nicht, hat tieferes Interesse an oder Verbindungen nach Europa.

Man darf nicht vergessen, dass es nicht einmal mehr direkte Flugverbindungen zwischen Russland und der EU gibt und Reisende auf umständliche Umwege angewiesen sind. Vermehrt finden sich unter den verbliebenen russischen Reisenden Leute, die westliche Fremdsprachen gelernt oder internationale Studiengänge besucht haben, Verwandtschaft oder Freunde im Westen haben.

Es sind urbane und oft junge Russen, die vor erhöhten Strapazen nicht zurückschrecken. Anders ausgedrückt handelt es sich genau um den Teil der russischen Gesellschaft, der der eigenen Regierung und ihrem Kurs am kritischsten gegenüber steht. Diese stößt man mit jedem Einreiseverbot vor den Kopf - die Gegner der russischen politischen Elite, die im eigenen Land unter starkem Druck stehen.

Zusätzlich schneidet man mit Reisesperren für Russen nach Westen Wege ab, auf denen Eindrücke und Meinungen vom aktuellen Weltgeschehen abseits der Moskauer Regierungspropaganda in das Land gelangen. Westliche Politiker, die Reisebeschränkungen fordern, machen sich zu unfreiwilligen Komplizen der Regierung im Kreml.

Diese ist selbst darauf bedacht, über Netzsperren und Medienzensur den eigenen Landleuten die Möglichkeit zu nehmen, Informationen außerhalb des Regierungsnarrativs zu sammeln. Es zeigt sich dramatisch, wie sehr die Nichteinverstandenen in Russland bei Reisesperren mit der Kremlmacht im eigenen Land allein gelassen werden.

Bereits allgemein in einer fast hoffnungslosen Stimmung könnte das dazu führen, dass sie sich auch von einem Westen enttäuscht abwenden, der eine Kollektivschuldtheorie über den gegenseitigen Austausch stellt.

Bernhard Gulka

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