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Olaf Scholz nach seiner ersten Regierungserklärung als Kanzler.

© Geisler-Fotopress

Erste Regierungserklärung im Bundestag: Scholz' „Wir schaffen das“-Moment – dann knöpft sich die Union Lindner vor

Olaf Scholz umarmt viele, nur nicht die Corona-Extremisten. Nach seinem Referat wird es lebendig, Ralph Brinkhaus will jedes Gramm CO2 in der Ampel-Zeit zählen.

Christian Lindner muss erst noch seinen Platz finden. Er will sich auf den Vizekanzler-Stuhl beim Kanzlerstuhl setzen, doch da liegt schon eine braune Ledertasche im Stuhl. Die von Robert Habeck, der ist aber noch woanders unterwegs. Lindner ist halt nur Vize-Vizekanzler und muss daher notgedrungen zwei Plätze weiter Platz nehmen. Coronabedingt bleibt immer ein Stuhl zwischen dem neuen männlichen Regierungs-Dreigestirn frei.

In den Reihen dahinter sitzen zwei Geburtstagskinder und werden besonders freudig begrüßt, Außenministerin Annalena Baerbock und Familienministerin Anne Spiegel werden beide 41 Jahre alt an diesem Tag.

Eine Woche nach der Kanzlerwahl soll das Volk heute erfahren, was Olaf Scholz mit der neuen Macht zu tun gedenkt. Er kommt als einer der letzten, holt aus der Aktentasche eine gelbe Aktenmappe mit seiner ersten Regierungserklärung heraus. 

Der Gong ertönt, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), erstmals steht die neue neue Regierungsmannschaft versammelt an ihren Stühlen, Scholz hat dem des Kanzlers mit der erhöhten Rückenlehne. Bas wünscht guten Morgen und die neue Lockerheit im hohen Hause zeigt sich auch darin, dass es aus dem Plenum „guten Morgen“ zurückschallt. Diese neue Ampel-Phase wird lebhaft werden im Parlament, und die Union versucht sogar mit Hilfe von Theodor Adorno ihre neue Oppositionsrolle zu definieren.

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Scholz hat satte 52 Seiten vor sich liegen und statt Regierungserklärung könnte der folgende Vortrag am Rednerpult auch Regierungsreferat oder Regierungsvorlesung heißen. Scholz, da ähnelt er mal wieder Angela Merkel, ist kein feuriger Redner, aber die Inhalte zeigen einen „präzisen Plan“, wie er es gerne formuliert. Und es ist eine Klartext-Rede, kein Wegducken vor Verantwortung, er legt auch für die Arbeit seiner Regierung die Anspruchslatte hoch. Geschrieben haben das Werk zusammen mit Scholz unter anderem sein Planungsstableiter Benjamin Mikfeld, Kanzleramts-Büroleiterin Jeanette Schwamberger und Redenschreiber Tobias Dürr.

„Bei der Bundestagswahl am 26. September hat sich die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes für Aufbruch und Fortschritt entschieden“, beginnt Scholz und gleich gibt es ein Aufstöhnen bei der Union. 31 Mal wird in seiner Rede der Begriff „Fortschritt“ auftauchen. „Die neue Bundesregierung übernimmt den Staffelstab in außergewöhnlich bedrückenden Wochen“, räumt Scholz ein, gemeint ist die Corona-Lage – die Ampel-Koalition hat hier bekanntlich mit dem Hin und Her um das Infektionsschutzgesetz einen suboptimalen Start hingelegt.

Annalena Baerbock und Anne Spiegel an ihrem 41. Geburtstag auf der Regierungsbank.
Annalena Baerbock und Anne Spiegel an ihrem 41. Geburtstag auf der Regierungsbank.

© Kay Nietfeld/dpa

"Karl Lauterbach schreit Feuer"

Dass nun Gesundheitsminister Karl Lauterbach Alarm schlägt, dass für Januar und Februar Impfstoff fehlen, mithin eine Impfpflicht schon daran scheitern könnte, bringt die Union in Rage. „Karl Lauterbach ruft Feuer, um dann Feuerwehr zu spielen – obwohl er weiß, dass es gar nicht brennt“, heißt es in einem Schreiben des gesundheitspolitischen Sprechers Tino Sorge an alle CDU/CSU-Abgeordneten, das parallel zur Scholz-Rede herumgereicht wird.

Darin sind alle laufenden Bestellungen aufgelistet – die würden reichen. Scholz spricht in seiner Rede übrigens nicht mehr davon, dass - gerechnet ab 18. November - bis Weihnachten 30 Millionen Impfungen in die Oberarme kommen sollen, sondern er betont mehrfach „bis Jahresende“.

Den Impfstoff hat noch Lauterbachs Vorgänger Jens Spahn (CDU) besorgt, nun muss Lauterbach selbst zeigen, ob auch er zusätzliche Impfstoffmengen, etwa durch Verhandlungen mit Biontech und Moderna bekommen kann. Scholz will aber nicht die Probleme betonen, sondern er hält eine Mutmach- und Umarmungsrede, er versucht das mitfühlende zu betonen, das scholzig-technokratische als Kanzler etwa abzulegen.

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Olaf Scholz im Gespräch mit Vizekanzler Robert Habeck.
Olaf Scholz im Gespräch mit Vizekanzler Robert Habeck.

© imago images/Emmanuele Contini

 Das Versprechen von Scholz: Wir schaffen das - und alles wird gut

Sein zentrales, durchaus mutiges Versprechen: In einigen sollten die Bürger über seine Regierung sagen „Ja, es geht gut aus. Es geht gut aus für mich, es geht gut aus für meine Familie und für unser ganzes Land.“ Angefangen bei der Pandemie. „Niemandem geht es richtig gut in diesen Zeiten. Mir nicht, Ihnen nicht, den Bürgerinnen und Bürgern nicht. Und viele fragen sich: Geht das jetzt immer so weiter – oder wird es wieder besser?“ Er sage den Bürgerinnen und Bürgern: „Ja, es wird wieder besser! Ja, wir werden den Kampf gegen diese Pandemie mit der größten Entschlossenheit führen. Und ja, wir werden diesen Kampf gewinnen.“ Es ist sein „Wir schaffen das“-Moment. Er dankt den erschöpften Ärzten und Helfern.

"Unsere Gesellschaft ist nicht gespalten"

Der Anfang ist der stärkste Teil, er erläutert, er dankt im Namen der Bundesregierung „von Herzen“ denen, die in der Pandemie immer vorsichtig gewesen sind; „die alles richtig gemacht haben; die sich an alle Regeln gehalten haben; die doppelt und dreifach geimpft sind.“ Aber er erläutert auch, wie er das meint, auch „Kanzler der Ungeimpften zu sein.“ Die Zögerlichen, die will man überzeugen, er habe Respekt vor ernstgemeinten Einwänden. „Wir hören zu. Wir sind offen für Kritik und Widerspruch“, sagt Scholz und stellt für sich fest: „Unsere Gesellschaft ist nicht gespalten.“

Kampfansage an die "extremistische Minderheit"

Dann zieht er aber eine klare Grenze, eine rote Linie des Dialogs: „Eine kleine extremistische Minderheit in unserem Land hat sich von unserer Gesellschaft, unserer Demokratie, unserem Gemeinwesen und unserem Staat abgewandt. Nicht nur von Wissenschaft, Rationalität und Vernunft.“ Dieser „winzigen Minderheit der Hasserfüllten, die mit Fackelmärschen, mit Gewalt und Morddrohungen uns alle angreift, werden wir mit allen Mitteln unseres demokratischen Rechtsstaates entgegentreten“, betont er. „Unsere Demokratie ist eine wehrhafte Demokratie.“ Großer Applaus - nur nicht bei der AfD.

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 Ein Sonderlob für "Dr. Merkel"

Anschließend lobt er, weil es ihre letzte große Herausforderung war, überaus freundlich seine Vorgängerin für die „unaufgeregte demokratische Zivilität des Übergangs“. „Frau Dr. Merkel hat der Bundesrepublik Deutschland 16 Jahre lang in eindrucksvoller Weise als Bundeskanzlerin gedient: Jederzeit orientiert an der Sache und an den Tatsachen. Stets völlig uneitel und ohne Allüren. Immer mit Mut und mit Klugheit, mit Pragmatismus und mit Umsicht.“ Es ist auch eine Umarmung Richtung Union. Die AfD-Fraktion stöhnt auf, wenn nur der Name der Dame fällt, Scholz eignet sich bisher weniger als Feindbild, er bekommt sogar AfD-applaus, etwa als es um das Projekt, ein Teil der Renten über Aktien zu finanzieren.

Die neue Regierungsbank mit dem Team von Kanzler Olaf Scholz.
Die neue Regierungsbank mit dem Team von Kanzler Olaf Scholz.

© imago images/Future Image

 Plötzlich zitiert Scholz Kaiser Wilhelm II.

Scholz streift alle entscheidenden Passagen des Koalitionsvertrags, betont auch die Erfolge von FDP und Grünen. Er macht deutlich, dass man mehr Fachkräfte ins Land holen will: Wir sind ein Einwanderungsland. (…) Aber wir müssen ein noch besseres Integrationsland werden“ Um die Größe des Umbaus von Industrie, Energiewirtschaft und des Verkehrssektors zu beschreiben, um zu unterstreichen, dass ein Weiter so keine Alternative sei, bemüht er sogar Kaiser Wilhelm II. Dem werde ja das Zitat zugeschrieben: „Ich glaube an das Pferd, das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.“ Hätte sich diese Sichtweise seinerzeit durchgesetzt, „dann wäre Deutschland heute ein anderes Land – ein ärmeres Land, ein rückständigeres Land.“

 Den größten Jubel gibt es an einer überraschenden Stelle

Eine Stunde und 26 Minuten redet Scholz, ähnlich lang wie Merkel 2005 – und ähnlich buchhalterisch trägt er vor, man muss bei der Monotonie aufpassen, dass man nicht plötzlich gedanklich abschweift und wichtiges verpasst. Den größten Jubel gibt es dann auch an einer überraschenden Stelle. Nicht etwa bei Scholz' Respekt-Passage, dass niemand mehr, weil er sich für klüger hält oder mehr verdient auf andere herabschauen soll. „Viele der Verletzungen und Kränkungen in unserer Gesellschaft haben ihre Ursache darin, dass sich Bürgerinnen und Bürger nicht genügend wahrgenommen fühlen.“ Oder für die Bauoffensive, oder den Kohleausstieg möglichst bis 2030. Sondern für die Abschaffung des Paragraphen 219 a, der bisher „Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche verbietet – und ebenso brandet Jubel auf, als Scholz die Streichung des Begriffs „Rasse“ aus dem Grundgesetz referiert. Es gibt gerade viele neue junge Abgeordnete, die viel Wert auf solche gesellschaftlichen Aufbruchssignale legen.

Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus hält eine engagierte Rede als neuer Oppositionsführer.
Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus hält eine engagierte Rede als neuer Oppositionsführer.

© Geisler-Fotopress

 Brinkhaus: Wir werden jedes Gramm CO2 zählen

Den Kontrast zu Scholz bildet der neue Oppositionsführer Ralph Brinkhaus, er umarmt erst Scholz, Lindner und Habeck, gratuliert zur neuen Regierung. Er habe sich nochmal Oppositionsreden von Kurt Schumacher, über Helmut Kohl bis zu Angela Merkel angeschaut, immer habe da auch Bitterkeit, ja Empörung mitgeschwungen, dass man nicht selbst regiert. Er wolle eine gestalterische Opposition, mit eigenen Vorschlägen, statt Dauernörgelei, aber man werde die Regierung genau kontrollieren: „Wir werden jedes Gramm CO2 zählen, wir werden jedes Kilogramm Müll zählen. Das wird unsere Politik sein." An Scholz gerichtet betont der anders als Scholz weitgehend frei redende Brinkhaus: „Fortschritt und Erneuerung braucht Begeisterung. Diese Begeisterung habe ich in den letzten 90 Minuten nicht gesehen.“ Und in Richtig der Oppositionskollegen von der AfD zieht er eine klare Grenze für eine Zusammenarbeit, dafür bemüht er ausgerechnet ein Zitat des linken Kapitalismuskritikers Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“

Wird von der Union scharf kritisiert: Finanzminister Christian Lindner.
Wird von der Union scharf kritisiert: Finanzminister Christian Lindner.

© imago images/Political-Moments

Die Ampel verbannt CDU/CSU neben die AfD

Es ist auch ein Suchen der neuen Rollen. Aber je länger Brinkhaus redet, desto mehr ist doch die Verbitterung zu spüren, er macht aber indirekt auch an den eigenen Laden klar, dass er nicht vorhat, sollte Friedrich Merz neuer Vorsitzender werden, als Fraktionschef zu weichen. Und eine Sache bringt ihn richtig auf die Palme. „Respekt ist keine Einbahnstraße“, ruft Brinkhaus. Dass SPD, Grüne und FDP an diesem Donnerstag ohne Aussprache die Sitzordnung per Beschluss so ändern wollen, dass die FDP in die Mitte rückt und CDU/CSU dafür direkt neben die AfD, sorgt für böses Blut.

Lindner säge an der Schuldenbremse - entgegen aller Versprechen

Und so knöpft sich Brinkhaus besonders den neuen Finanzminister auf der Regierungsbank vor. Dass der den Energie- und Klimafonds mit einer Art Schattenhaushalt um rund 60 Milliarden Euro mit bisher nicht in Anspruch genommen Pandemiekrediten aufstocken will, sei kein Taschenspielertrick, „sondern ein Sägen an den Fundamenten der Schuldenbremse“. Was komme als nächstes, Steuererhöhungen? „Fünf Mal ist die Sonne aufgegangen und schon bricht Christian Lindner sein Versprechen.“ Die Union will das Vorgehen vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen.“ Lindner tippt demonstrativ auf dem Smartphone herum. Scholz macht sich gegen 12.15 Uhr zusammen mit dem Geburtstagskind Baerbock auf, es gibt einiges noch zu klären. Sie wird später wegen des Urteils im Tiergarten-Mord zwei russische Diplomaten zur unerwünschten Person erklären, für Scholz geht es zum ersten Gipfel nach Brüssel. Die CSU-Abgeordnete Doro Bär hat da bereits ihr Urteil über die neuen Rollen im Bundestag getroffen: „Wir sind die beste Opposition, die Deutschland je hatte.“

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