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Ein afghanisches Mädchen, das aufgrund von von Kämmpfen zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften aus ihrer Heimat geflohen ist.

© picture alliance/dpa/AP

Erinnerungen an 2015 werden wach: Erwartet Europa die nächste große Flüchtlingskrise?

Schlauchboote von der libyschen Küste, Tausende Afghanen in Angst: Krisen und Konflikte schüren in Europa die Furcht. So ist die aktuelle Situation.

In Europa wächst die Sorge vor einer neuen Massenflucht, der Umgang mit Migranten ist auch Streitthema in der Regierungskoalition. Es geht um Abschiebungen nach Afghanistan, die Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet trotz der sich verschlechternden Sicherheitslage im Land fortführen will.

Experten warnen derweil angesichts weltweiter Flüchtlingsbewegung vor Panik und Populismus.

Die Lage

Weltweit sind laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht, 35 Millionen davon Kinder. Jedes Jahr werden gut 300.000 Kinder als Flüchtlinge geboren. Allein in Europa haben Schutzsuchende aus aller Welt seit 2015 etwa 5,2 Millionen Asylanträge gestellt. Die Furcht vor einer neuen Krise wie 2015 geht um, aber derzeit kann davon keine Rede sein. Fast 50 der weltweit 82,4 Millionen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, sind Flüchtlinge im eigenen Land – sie sind also nicht auf dem Weg in die EU.

2016 bis 2020 registrierte das UNHCR etwa 840.000 Flüchtlinge, die in EU-Mittelmeerländern ankamen: Die Gesamtzahl dieser fünf Jahre war niedriger als die eine Million Menschen, die im Jahr 2015 gezählt wurden.

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Auch 2021 kommen bisher „extrem wenige irreguläre Migranten“ in der EU an, wie Gerald Knaus von der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative (ESI) sagt. Auf griechischen Ägäis-Inseln wurden seit Januar lediglich circa 1500 neue Flüchtlinge gezählt.

Mehr als zwei Drittel der Flüchtlinge, die außerhalb ihrer Länder Schutz suchen, kommen aus einer Handvoll Ländern. Mit 6,7 Millionen Vertriebenen im Ausland führt Syrien diese traurige Liste an.

Ebenso tragen nur wenige Länder die Hauptlast bei der Versorgung der Flüchtlinge. Allein die Türkei kümmert sich um 3,6 Millionen Syrer und mehrere Hunderttausend Afghanen. Kolumbien, Pakistan und Uganda haben jeweils 1,4 bis 1,7 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Auch Deutschland gehört mit 1,2 Millionen Flüchtlingen zu der Gruppe der wichtigsten Zufluchtsstaaten.

Die Schlepper

Flüchtlinge ohne gültige Papiere nach Europa zu bringen, ist ein professionell organisiertes und internationales Geschäft. Schleuserbanden transportieren Menschen durch die Sahara zum Mittelmeer, aus Afghanistan in die Türkei und aus Nordafrika nach Europa.

Auch große Entfernungen überwinden sie. Schlepper bringen derzeit so viele Menschen aus Bangladesch ins 7000 Kilometer entfernte Libyen und von dort aus nach Italien, dass die Bangladescher in diesem Jahr die stärkste nationale Flüchtlingsgruppe in Europa bilden. Mehr als 10000 US-Dollar muss ein Bangladescher für die gefährliche Reise bezahlen, doch viele gehen das Risiko ein, um mit Jobs in Europa ihre Familien zu Hause zu unterstützen.

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Bangladescher im Ausland überwiesen nach Angaben der Weltbank im vergangenen Jahr fast 22 Milliarden Dollar in ihre Heimat.

Diese Nachfrage sichert den Schleppern hohe Gewinne. Allein mit dem Menschenschmuggel durch den westlichen Balkan nach Mitteleuropa verdienen Schleuser nach einer Schätzung der Globalen Initiative gegen Transnationales Organisiertes Verbrechen in Genf mehr als 50 Millionen Euro pro Jahr. Nur selten werden die Chefs der Schlepperbanden gefasst. Die UN nehmen an, dass korrupte Beamte in den Staaten entlang der Fluchtroute mitverdienen.

Die Krisenländer

Der Krieg in Syrien hat zwölf Millionen Menschen – also jeden zweiten Bürger des Landes – heimatlos gemacht. Fast sieben Millionen sind ins Ausland geflohen. Die benachbarte Türkei befürchtet neue Kämpfe um die letzte verbliebene Rebellenhochburg Idlib, wo rund drei Millionen Menschen leben. Ankara hat erklärt, nicht noch mehr Syrer aufnehmen zu können.

2020 öffnete die Türkei vorübergehend ihre Landgrenze zu Griechenland für Flüchtlinge, um Druck auf die EU zu machen. Die türkische Opposition fordert, die syrischen Flüchtlinge sollten nach Hause geschickt werden.

Eine Gruppe mutmaßlicher Migranten aus Tunesien sitzen an Bord eines Holzbootes und wartet auf Hilfe.
Eine Gruppe mutmaßlicher Migranten aus Tunesien sitzen an Bord eines Holzbootes und wartet auf Hilfe.

© Santi Palacios/AP/dpa

Syriens Staatschef Baschar al-Assad versucht, die Angst der Türken und der Europäer vor einer neuen Massenflucht auszunutzen. Er will erreichen, dass der Westen den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes bezahlt, und stellt dafür eine Rückkehr der Flüchtlinge in Aussicht. Syrien und das mit ihm verbündete Russland sprachen jetzt bei einer Konferenz in Damaskus über ein Programm für die Flüchtlingsrückkehr. Die syrische Opposition nennt die Initiative eine „Farce“.

Auch der Konflikt in Afghanistan zwingt Tausende zur Flucht ins Ausland. Der Abzug der westlichen Truppen hat den radikal-islamischen Taliban einen neuen Vormarsch ermöglicht. Einige fliehen schon jetzt in den benachbarten Iran und von dort aus weiter in die Türkei, wo derzeit jeden Tag einige hundert Afghanen ankommen. Magdalena Kirchner, Afghanistan-Direktorin der Friedrich-Ebert-Stiftung, rechnet mit einer Zunahme der Flüchtlingszahlen.

Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit ließen vielen Afghanen keine andere Wahl, sagte sie dem Tagesspiegel: „Der Druck, das Land zu verlassen, ist schon sehr groß.“ Wer es sich leisten könne, besorge sich für sich und seine Familie ein Visum für die Türkei. Andere suchen in Nachbarländern Schutz.

Die türkische Regierung baut eine Mauer an der Grenze zum Iran, um die Flüchtlinge fernzuhalten. Der Migrationsexperte Murat Erdogan von der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul schätzt, dass die Zahl der afghanischen Flüchtlinge in der Türkei dennoch von derzeit 500.000 auf eine Million steigen könnte.

In der letzten verbliebenen syrischen Rebellenhochburg Idlib drohen neue Kämpfe.
In der letzten verbliebenen syrischen Rebellenhochburg Idlib drohen neue Kämpfe.

© OMAR HAJ KADOUR / AFP

Erdogan erwartet, dass etwa zehn Prozent von ihnen versuchen werden, von der Türkei in die EU zu kommen. Kirchner weist aber darauf hin, dass die Fähigkeit von Ländern wie der Türkei, viele Flüchtlinge aufzunehmen, ihre Grenzen erreicht habe.

Die Regierungen dieser Staaten geraten innenpolitisch in Bedrängnis, weil ihre Bürger befürchten, dass ihre Länder zum „Parkplatz für die Elenden dieser Welt“ werden, sagt Kirchner.

In Libyen bemühen sich UN und Europa um eine Stabilisierung nach zehn Jahren Chaos und Gewalt, die das nordafrikanische Land zu einem wichtigen Zwischenstopp für Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa gemacht haben. Im Dezember soll eine Regierung für das ganze Land gewählt werden, doch das Misstrauen zwischen den Politikern, Parteien und Milizen in verfeindeten Machtblöcken im Osten und Westen des Landes ist groß.

Von Libyen aus starten nicht nur viele Schutzsuchende aus Afrika, sondern auch aus Nahost und Asien nach Italien. Viele bezahlen die Reise mit ihrem Leben: Auf der Seeroute durch das zentrale Mittelmeer nach Italien ertranken nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration seit Jahresbeginn mindestens 741 Menschen; im ganzen Mittelmeer waren es seit Januar fast 1150 Todesopfer, doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum.

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Vom libyschen Nachbarn Tunesien aus legen ebenfalls immer mehr Flüchtlingsboote nach Italien ab. Nach Jahren der relativen Stabilität ist die einzige Demokratie, die aus den Unruhen des Arabischen Frühlings hervorging, in eine schwere wirtschaftliche und politische Krise gerutscht. Präsident Kais Saied hat die Regierung entlassen, das Parlament aufgelöst und hochrangige Beamte entlassen. Seine Gegner werfen ihm einen Staatsstreich von oben vor. Immer mehr junge und gut ausgebildete Tunesier suchen ihr Glück in Europa; seit Jahresbeginn kamen fast 3000 von ihnen in Booten in Italien an.

Auch in anderen Ländern des Nahen Ostens verlieren viele Menschen die Hoffnung, in ihrer Heimat ein besseres Leben aufbauen zu können.

Im Irak protestieren immer wieder Tausende gegen schlechte Lebensbedingungen, die sich trotz des Ölreichtums des Landes nicht verbessern. Ausfälle der Strom- und Wasserversorgung, Korruption, Arbeitslosigkeit und Gewalt gehören für viele zum Alltag. Das Land ist außerdem ein Schlachtfeld der Auseinandersetzung zwischen den USA und dem Iran. Wer kann, sucht im Ausland neue Chancen: Die Iraker sind eine der größten Gruppe von ausländischen Immobilienkäufern in der Türkei.

In Deutschland stellen sie nach Syrern und Afghanen die drittstärkste Gruppe von Asylbewerbern.

Eine geregelte Aufnahme in Europa könnte die gefährliche Überfahrt in Schlauchbooten beenden.
Eine geregelte Aufnahme in Europa könnte die gefährliche Überfahrt in Schlauchbooten beenden.

© Flavio Gasperini/SOS Mediterranee/dpa

Im Iran treiben die repressive Politik, eine schwere Wirtschaftskrise und wachsende ökologische Probleme immer mehr Menschen aus dem Land. Proteste werden von Polizei und Revolutionsgarde niedergeschlagen – allein bei Demonstrationen gegen eine Benzinpreiserhöhung 2019 wurden nach Angaben von Amnesty International mehr als 300 Menschen erschossen. Dennoch gibt es immer wieder Unruhen, wie zuletzt wegen eines akuten Trinkwassermangels in mehreren Landesteilen.

In Deutschland waren die Iraner mit etwa 2600 Anträgen im vergangenen Jahr unter den zehn größten Gruppen von Asylbewerbern.

Noch mehr Asylanträge als die Iraner stellen in Deutschland die Schutzsuchenden aus der Türkei. Mehr als 5000 registrierten die deutschen Behörden 2020. Gründe dafür sind der wachsende Druck der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf Andersdenkende und die steigende Arbeitslosigkeit. Viele Regierungskritiker wie der Journalist Can Dündar sind in den vergangenen Jahren nach Deutschland geflohen. Die EU kritisiert einen Abbau von Demokratie und Rechtsstaat im Bewerberland Türkei, vor allem seit dem Putschversuch von 2016.

Die Zukunft

Entwicklungen wie in Afghanistan oder Libyen müssten ernst genommen werden, sagt Afghanistan-Expertin Kirchner. Nach 2015 habe sich die EU vorgenommen, Fluchtursachen zu bekämpfen, sei damit aber gescheitert.

„Da ist nicht viel passiert.“ ESI-Chef Knaus plädiert für eine geregelte Aufnahme von Flüchtlingen durch westliche Industrienationen – so könnten etwa 300.000 Menschen jedes Jahr eine neue Heimat finden, ohne sich Schleuserbanden und löchrigen Schlauchbooten anvertrauen zu müssen. Allein die USA wollen im nächsten Jahr 125.000 Flüchtlinge auf diese Weise aufnehmen.

Deutschland könne in Europa eine Vorbildfunktion übernehmen und gut 40.000 Menschen pro Jahr aufnehmen, sagte Knaus dem Tagesspiegel. Wenn die Bundesrepublik vorangehe, würden weitere Staaten folgen. „Dann könnte ein Schwung mit realistischen und mehrheitsfähigen Zahlen von aufgenommenen Flüchtlingen entstehen.“ Vorbild wäre die Aufnahme vietnamesischer Bootsflüchtlinge durch verschiedene Länder Ende der 1970er Jahre.

„Hysterie“ trotz der derzeit relativ niedrigen Flüchtlingszahlen helfe dagegen nicht weiter. Auch Kirchner hält die geregelte Wiederansiedlung von Flüchtlingen grundsätzlich für einen guten Weg. Es sei an der Zeit, sich wieder intensiver mit dem Flüchtlingsproblem zu beschäftigen: „Man kann es ja nicht einfach wegwünschen.“

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