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Migranten aus afrikanischen Nationen warten in einem Boot auf Helfer, 122 Meilen vor der libyschen Küste im Mittelmeer.

© picture alliance/dpa/AP

Ein Jahr „Geo Barents“-Rettungsmission im Mittelmeer: „Ärzte ohne Grenzen“ dokumentiert hunderte Gewalterfahrungen auf der Flucht

Seit Juni 2021 rettete die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ 3138 Migranten aus dem Mittelmeer. Viele erlebten zuvor Folter oder Inhaftierung in Libyen.

„Ärzte ohne Grenzen“, die humanitäre Hilfsorganisation, schlägt Alarm. Ein Jahr nach dem Start der jüngsten Rettungsmission auf dem Mittelmeer sind zwar mehr als 3000 Menschen gerettet worden, aber Hunderte berichten von Gewalterfahrungen. Die meisten haben Folter, Entführungen oder willkürliche Inhaftierungen in Libyen erlebt, wie aus einem Report hervorgeht, den „Ärzte ohne Grenzen“ zum ersten Jahrestag veröffentlicht hat.

Die Hilfsorganisation fordert vor dem Hintergrund aufs Neue ein Ende der „europäischen Abschottungspolitik“.

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Elf Mal waren Teams von „Ärzte ohne Grenzen“ innerhalb eines Jahres mit dem gecharterten Schiff „Geo Barents“ auf dem Mittelmeer unterwegs. Bei 47 Einsätzen seit Juni 2021 wurden 3138 Menschen gerettet und 6536 medizinische Untersuchungen vorgenommen. Zehn Menschen konnten nur noch tot aus dem Meer geborgen werden.

Die weit überwiegende Anzahl der Überlebenden ist aus Libyen geflüchtet, stammt allerdings aus Ländern mit langjährigen Konflikten, Krieg oder extremer Armut. Das sind Länder wie Eritrea, der Sudan, die Elfenbeinküste, Bangladesch oder Ägypten.

Gewalt, Folter und Misshandlung auf der Flucht

34 Prozent der Geretteten waren Kinder und Jugendliche, davon 89 Prozent allein, von ihren Familien getrennt. Laut Report berichteten 265 Personen von Gewalt, Folter oder Misshandlung. Registriert wurden außerdem 620 Fälle von Gewalt gegen gerettete Menschen. Ärzte ohne Grenzen befürchtet eine noch weit höhere Dunkelziffer.

Die meisten Vorfälle ereigneten sich, nachdem Geflüchtete von der libyschen Küstenwache aufgegriffen worden waren. Ihren Berichten zufolge waren die Täter zu 34 Prozent Wachleute in den Haftanstalten, zu 15 Prozent Angehörige der Küstenwache. In elf Prozent der Fälle handelte es sich um nichtstaatliche oder militärische Polizeikräfte und in zehn Prozent um Schmuggler oder Schleuser.

29 Prozent der Opfer waren minderjährig, 18 Prozent sind Frauen

Die Teams von „Ärzte ohne Grenzen“ dokumentieren ein hohes Maß an Gewalt gegen Frauen und Kinder – 29 Prozent der Opfer waren minderjährig, das jüngste von ihnen war gerade mal acht Jahre alt. 18 Prozent der Opfer sind Frauen. Unter den häufigsten Folgen: Verbrennungen, Knochenbrüche, Kopfverletzungen, Verletzungen durch sexualisierte Gewalt, psychische Störungen.

Zwei traurige Rekorde in 2021

Marie von Manteuffel, Expertin für Migration bei „Ärzte ohne Grenzen Deutschland“, machte nachdrücklich darauf aufmerksam, dass 2021 die bisher meisten Menschen auf dem Mittelmeer gestorben und gleichzeitig so viele wie nie – 32.000 – von der Küstenwache mitunter gewaltsam nach Libyen zurückgedrängt worden seien.

Zwei traurige Rekorde, deren Grund die Politik der Europäischen Union sei; sie führe dazu, „dass mehr Menschen auf dem Mittelmeer sterben und zugleich mehr Geld in das System der Menschenschmuggler fließt“.

Die Organisation drängt nun, „politische Antworten auf die dringenden Bedarfe der Menschen in Notsituationen wie in Libyen oder in Seenot“ zu finden. Nichtregierungsorganisationen dürften „nicht als humanitäre Lückenfüller benutzt“ werden, betonte Manteuffel.

Internierungslager in Libyen

Am zentralen Mittelmeer endet für viele die Flucht. Vorher haben die Menschen teils zu Fuß, schutzlos, an Menschenhändler ausgeliefert die Sahara überquert. Teils wurden sie dann aber aus Libyen wieder an das südlich angrenzende Niger abgeschoben. Oder sie kamen in Libyen in Internierungslager ohne rechtliche Grundlage, dort über Monate und Jahre festgehalten, gefoltert und misshandelt.

„Ärzte ohne Grenzen“ wurde am 9. Juni 1993 in Deutschland gegründet. Der Verein ist eine von 23 Sektionen des 1971 ins Leben gerufenen internationalen Netzwerks von „Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen“. Er hat seinen Sitz in Berlin. Mehr als 725.000 private Spender:innen unterstützen in Deutschland die weltweite medizinische Arbeit. Koordiniert werden Hilfsprojekte in elf Ländern.

Insgesamt engagieren sich Zehntausende in mehr als 70 Ländern. Sie sind Ärzt:innen, Krankenpfleger:innen, Psycholog:innen, Verwaltungsmitarbeiter:innen und Logistikexpert:innen. Für sein weltweites Engagement erhielt das Netzwerk 1999 den Friedensnobelpreis.

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