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Menschen demonstrieren am Dienstag gegen die Ernennung eines Parteifreundes Erdogan zum Leiter der Bogazici Universität.

© AFP/Yasin AKGUL

„Das hier wird weitergehen“: Polizei belagert Istanbuler Universität – Studierende wollen nicht aufgeben

Seit Wochen herrscht vor der Bosporus-Universität Belagerungsstimmung. Ein Dialog ist unmöglich – denn Erdogan befürchtet Unruhen wie bei den Gezi-Protesten.

Vor dem Tor der renommierten Bosporus-Universität in Istanbul herrscht eine neue Normalität. Hohe Absperrgitter riegeln die Straßen ab, gepanzerte Fahrzeuge und Wasserwerfer warten in den Seitengassen, Polizisten in Kampfmontur und mit Schnellfeuergewehren patrouillieren. Seit Wochen schon herrscht diese Belagerungsstimmung.

Bereitschaftspolizisten sitzen gelangweilt im Hof einer nahen Moschee, während die Studenten einen Spießrutenlauf durch die Reihen der Sicherheitskräfte absolvieren müssen, um auf ihren Campus zu kommen. Unterricht gibt es derzeit nicht, dafür hin und wieder brutale Polizeieinsätze wie zu Wochenbeginn, als mehr als 150 Studenten festgenommen und in Handschellen abgeführt wurden.

Trotzdem kommen auch am Mittwochvormittag wieder viele Studenten zur Uni. Warum tun sie sich das an? „Wir wollen Demokratie hier und an allen Universitäten“, sagt der 22-jährige Philosophiestudent Ali.

Ali, der seinen wirklichen Namen aus Angst vor Repressalien nicht nennen will, ist zum Campus gekommen, um seine Dozenten zu unterstützen. Die Lehrkräfte stellen sich aus Protest gegen den neuen Rektor jeden Tag mit dem Rücken zum Rektoratsgebäude auf den Rasen – Journalisten sind dabei nicht zugelassen, sagt ein Polizist am Eingang. Bilder von den Aktionen gibt es trotzdem, weil den Angestellten der Hochschule und den Studenten der Zugang nicht verweigert werden kann.

Sie alle wehren sich gegen die Entscheidung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, den regierungsnahen Akademiker Melih Bulu als Rektor der Bosporus-Universität einzusetzen. Seit Erdogans Erlass vom 1. Januar gibt es Proteste an der Universität, die zu den besten des Landes zählt und die bisher ihre Rektoren stets selbst gewählt hat.

Demonstranten entfernen sich am Dienstag nach einem Träneneingas der Polizei.
Demonstranten entfernen sich am Dienstag nach einem Träneneingas der Polizei.

© REUTERS/Umit Bektas

Die Demonstrationen richten sich auch gegen den selbstherrlichen Führungsstil des 66-jährigen Erdogan – und sie zeigen, wie tief der Graben zwischen der jungen Generation und der türkischen Regierung ist, die seit fast 20 Jahren an der Macht ist. Manche halten ihn für nicht mehr überbrückbar. Erdogans nationalistischer Koalitionspartner Devlet Bahceli sagt, die Demonstranten seien „nicht unsere Kinder“, sondern Vandalen, Barbaren und „Giftschlangen, denen man den Kopf zertreten muss“.

Bulu ist siegesgewiss. Rücktrittsforderungen der Opposition weist er zurück, denn er hat Erdogan im Rücken, und das ist für Staatsangestellte wie ihn in der Türkei das Allerwichtigste. Die Proteste bezeichnet er mal herablassend als Auswüchse jugendlicher Hormonschübe, mal als das Werk staatsfeindlicher Provokateure.

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Innenminister Süleyman Soylu, der führende Hardliner in Erdogans Kabinett, nennt die Studenten „Perverse“, weil bei einer Kundgebung ein Bild der Kaaba in Mekka mit einer LGBT-Fahne kombiniert wurde und weil die Bosporus-Universität bisher einen LGBT-Club hatte. Die Behörden haben den Club jetzt geschlossen. Die LGBT-Kultur, sagt Soylu im Fernsehen, sei der Türkei fremd und werde vom Westen ins Land getragen, um die Institution der türkischen Familie zu zerstören.

Festnahmen nach Diskussionen in sozialen Netzwerken

Ein Dialog ist unmöglich. Die Regierung will ihn sowieso nicht, wie die Hundertschaften vor den Zugängen zur Bosporus-Uni zeigen. Jeder Widerstand soll im Keim erstickt werden. Eine Solidaritäts-Demo im Stadtteil Kadiköy wurde am Dienstagabend von der Polizei mit Reizgas und Plastikgeschossen aufgelöst, wieder wurden Dutzende festgenommen. Die Behörden hatten die Kundgebung mit Verweis auf die Corona-Pandemie verboten – obwohl die Versammlung eines islamistischen Verbandes in Istanbul stattfinden durfte und obwohl Erdogans Regierungspartei AKP derzeit eine ganze Serie von Landesparteitagen in vollen Hallen abhält.

Auch im Internet macht die Justiz Jagd auf Unterstützer der Studenten. Der Anwalt Ali Gül berichtet, vier Teilnehmer einer Diskussion über die Uni-Proteste im Netzwerk Clubhouse seien wegen Volksverhetzung festgenommen worden, weil sie die Freilassung ihrer Kommilitonen forderten. „Da kann man nur noch lachen“, sagt Gül.

Regierungsnahe Medien machen abwechselnd linksextreme Organisationen und westliche Geheimdienste verantwortlich für die Demonstrationen. Erdogans Regierung befürchtet Unruhen wie bei den Gezi-Protesten von 2013, auch wenn es bisher keine Anzeichen dafür gibt, dass sich andere gesellschaftliche Gruppen den Studenten anschließen.

Der türkische Präsident Erdogan bezeichnete die protestierenden Studenten als "Mitglieder von Terrororganisationen".
Der türkische Präsident Erdogan bezeichnete die protestierenden Studenten als "Mitglieder von Terrororganisationen".

© Uncredited/Turkish Presidency/AP/dpa

Entmutigen lassen sich die jungen Leute aber nicht. „Das hier wird weitergehen, es wird sich ausbreiten, und am Ende wird der Rektor zurücktreten“, ist ein Student sicher. Die vergangenen Wochen haben schon jetzt viel Schaden angerichtet. Bereits vor Ausbruch der Proteste sahen zwei von drei jungen Türken ihre Zukunft im Ausland. Für knapp 70 Prozent ist die Meinungsfreiheit sehr wichtig, ergab eine Befragung der Stiftung Sodev, die mit der Friedrich-Ebert-Stiftung kooperiert.

„Nach meinem Abschluss bin ich hier weg“

Erdogan kann den jungen Leuten zwar seine Polizei auf den Hals hetzen, doch Freunde macht er sich in der wichtigen Gruppe der Jungwähler damit nicht. Die Jugendarbeitslosigkeit in der Türkei liegt bei 25 Prozent, bei Jung-Akademikern noch darüber. Bei der Volksabstimmung über die Einführung des Präsidialsystems vor vier Jahren votierten 60 Prozent der jungen Türken gegen Erdogans Plan. Bei den Kommunalwahlen vor zwei Jahren, bei denen die AKP in Istanbul, Ankara und anderen Städten schwere Niederlagen erlitt, wandten sich 68 Prozent der Erstwähler gegen den Präsidenten.

Buse, eine 28-jährige Doktorandin der Bosporus-Universität, hat für sich selbst schon Konsequenzen gezogen. Die junge Frau mit bunten Strähnen im Haar ist am Mittwochvormittag ebenfalls auf dem Weg zur Protestkundgebung der Dozenten an der Bosporus-Uni. Sie will, dass Rektor Bulu verschwindet. Der Staat wolle die Studenten als Terroristen hinstellen, sagt sie, aber die Proteste würden weitergehen. Sie selbst will nicht mehr darauf warten, ob sich etwas bessert in der Türkei. „Ich habe mir eine Stelle in Spanien besorgt“, sagt Buse. „Nach meinem Abschluss bin ich hier weg.“

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