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Eine Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen vor dem Bundestag in Berlin.

© AFP/John Mac Dougall

Anschlagsgefahr in Deutschland wächst: Verfassungsschutz befürchtet Terror von Coronaleugnern

2020 war ein Jahr für Extremisten. Die Coronakrise befeuert Radikalisierung, der IS baut in Europa Strukturen auf, Autonome imitieren die RAF. Wie wird 2021?

Von Frank Jansen

Das war ein hartes Jahr für Deutschland, nicht nur wegen des Virus. Ein schwerer rechtsextremer Anschlag in Hanau, zunehmend gewalttätige Proteste der Coronaleugner, Verschwörungstheorien breiten sich aus wie ein Flächenbrand, ein tödliches islamistisches Attentat in Dresden, militante Linksextremisten radikalisieren sich in Richtung Terror: Die Gefahren werden vielfältiger und sind oft noch schwerer zu kalkulieren. „Es gibt überhaupt keinen Grund für Entwarnung“, sagt der Leiter des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, Burkhard Freier. Und er glaubt nicht, dass 2021 einfacher wird. Die größte Gefahr für Deutschland sehe er aber „nach wie vor im Rechtsextremismus“. Ein Überblick.

Sendbote des politischen Wahns

Am 19. Februar schießt der Rassist Tobias Rathjen in Hanau gezielt auf Besucher von Shisha-Bars. Neun Menschen aus Einwandererfamilien sterben. Rathjen fährt nach Hause, tötet seine Mutter und sich selbst. Das Verbrechen schockt die Republik. Es übertrifft noch die rechtsextremen Attentate von 2019, als der Neonazi Stephan Ernst den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke mit einem Kopfschuss tötet und in Halle der Antisemit Stephan Balliet zwei Menschen erschießt, nachdem er vergeblich die vollbesetzte Synagoge attackiert hat.

Der Täter von Hanau wirkt zudem, so erscheint es heute, wie ein Sendbote des politischen Wahns, der vom Frühjahr an mit der rasanten Radikalisierung der Coronaleugner über das Land hereinbricht.

"Das Potenzial schwillt an"

Der psychisch labile Rathjen kombiniert rechtsextreme Vernichtungsfantasien mit Verschwörungstheorien, die später bei Coronaprotestlern kursieren. Rathjen verbreitet vor der Tat im Internet, in den USA würden Geheimgesellschaften in unterirdischen Lagern Kinder töten. So raunt auch die QAnonBewegung, die von Amerika aus mit blutrünstigen Verschwörungsmythen bei Coronaleugnern andockt.

„Verschwörungsideologien schaffen eine Rechtfertigung für Anschläge“, sagt Verfassungsschutzchef Freier. „Dann fehlt manchmal nur ein Funke, dass allein handelnde Täter zuschlagen.“ Freier vermeidet den Begriff „Einzeltäter“, denn solche Leute seien „ideologisch nie allein“. Dieser Typus sei aktuell die größte Gefahr. Meist radikalisiert über soziale Netzwerke und für die Sicherheitsbehörden schwer zu erkennen. „Das Potenzial ist groß“, warnt Freier. „Und es schwillt anlassbezogen noch an.“

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Gefährlicher Coronaprotest

Der Verfassungsschützer betont, „der rechtsextremistische, allein handelnde Täter ist in Deutschland aktuell sogar gefährlicher als der allein handelnde islamistische Täter“. Das könne sich wieder ändern, doch 2020 sei das rechte Terrorrisiko durch die zunehmende Vermischung von Neonazis, Reichsbürgern, Coronaleugnern und radikalen Impfgegnern weiter gewachsen.

Die von Rechtsextremisten geschürte Endzeitstimmung und die Sehnsucht nach dem „Tag X“, dem Beginn eines Bürgerkriegs und der großen Abrechnung mit allen Gegnern, verbinde die Milieus im Ungeist. Freier warnt, „das Apokalyptische der Verschwörungsmythiker verbindet sich mit dem Rechtsextremismus“. Das könne gerade auch bei Coronaleugnern „in seiner Konsequenz zu Terror führen“. Und es gibt Warnzeichen.

Brandflaschen und ein Sprengsatz

Im Oktober werfen in Berlin mutmaßliche Coronaleugner Brandsätze auf das Gebäude des Robert-Koch-Instituts. Nur Stunden später explodiert im Bezirk Mitte nahe dem Sitz der Leibniz-Gemeinschaft ein Sprengsatz. Die Gemeinschaft ist ein Verbund von Forschungsinstituten, mehrere befassen sich mit Corona.

Am Tatort findet die Polizei ein Bekennerschreiben mit wilden Parolen. Alle staatlichen Beschränkungen wegen Corona müssten eingestellt werden, die Bundesregierung müsse zurücktreten, es müssten Neuwahlen abgehalten werden. Im November, am Rande der Demonstration der „Querdenker“ während der Debatte im Bundestag zum Infektionsschutzgesetz, brennt nahe dem Brandenburger Tor ein Grillanzünder auf dem Reifen eines Polizeifahrzeugs. Hätten Zeugen nicht Einsatzkräfte alarmiert, wäre der Wagen in Flammen aufgegangen.

155 Gewalttaten gegen den Staat

Wie sich politische Konflikte während der Coronakrise aufheizen, dokumentiert ein Papier der Bundesregierung. Von März bis Ende November hätten die Länderpolizeien dem Bundeskriminalamt 297 Gewaltstraftaten „im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie“ gemeldet, heißt es in einer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion. Die meisten Straftaten, insgesamt 160, werden linken Tätern zugeordnet, bei 48 Delikten gelten Rechte als verantwortlich. 89 Straftaten sind bislang nicht genau zuzuordnen.

Bei 155 Gewalttaten war der Staat das Angriffsziel. Eine etwas sperrige Angabe zeugt vom rechtsextremen Terrorrisiko in der Coronakrise. Sei Beginn der Pandemie habe sich das „Gemeinsame Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum zur Bekämpfung des Rechtsextremismus/-terrorismus (GETZ-R) mit 28 Sachverhalten“ beschäftigt. Das GETZ, 2012 gegründet als Reaktion auf den NSU-Schock, ist eine Informationsplattform für 40 Sicherheitsbehörden. Thema waren offenkundig auch die Anschläge auf das Robert- Koch-Institut und nahe der Leibniz-Gemeinschaft in Berlin.

AfD zündelt mit

Der Hamburger Verfassungsschutz warnt Mitte Dezember, Protagonisten der rechtsextremen AfD-Vereinigung „Der Flügel“ beteiligten sich „radikalisierend an den Protesten gegen staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie“. Ein Flügel-Anhänger wirbt in den sozialen Netzwerken für Gewalt.

„Die Zeit des friedlichen Widerstands ist vorbei“, schreibt das AfD-Mitglied, „wenn Ihr einen Gegner habt, der eine Maschinenpistole hat, bringt es nichts, mit Pfeil und Bogen dagegen zu arbeiten (...) Entweder wir haben die Masse, oder wir müssen halt andere Taktiken machen, ja so Guerillataktiken (...) Kann sich jeder selber überlegen, was man da machen kann. Und dann eben das System ausnutzen, wo man kann.“ Das ist die Sprache extremistischer Militanz. Ein Sound wie bei Islamisten und anderen Fanatikern.

Dresden, Paris, Nizza, Wien

Die Serie islamistischer Anschläge hat die Sicherheitsbehörden erschreckt. Längere Zeit war es in Westeuropa halbwegs ruhig geblieben, die Terrormiliz „Islamischer Staat“ schien nach ihren Niederlagen in Syrien und Irak lahmgelegt. Doch der Terror brach wieder hervor. Erst ohne offensichtliche Beteiligung des IS, dann auch gezielt von ihm geschürt.

In Dresden ersticht am 4. Oktober ein junger Syrer aus Hass auf Homosexuelle einen schwulen Touristen. Der Täter ist Anhänger des IS, handelt aber auf eigene Faust. Zwölf Tage später enthauptet ein junger Tschetschene in einem Vorort von Paris den Lehrer Samuel Paty, der im Unterricht über die umstrittenen Mohammed-Karikaturen sprach.

Am 29. Oktober stürmt in Nizza ein junger Tunesier mit einem Messer in eine Kirche, drei Menschen sterben. Vier Tage danach schießt in Wien ein junger, in Österreich geborener Islamist auf Menschen, die kurz vor dem Lockdown noch mal in Straßencafés sitzen. Vier Tote, 23 Verletzte. Zu diesem Anschlag bekennt sich der IS.

Der IS will in den Ländern der EU wieder Strukturen aufbauen

„Wien“ bereitet Verfassungsschützer Freier noch größere Sorge als die anderen islamistischen Anschläge. Die Tat zeige, „dass der IS in den Ländern der Europäischen Union wieder Strukturen aufbauen will“. Die Terrormiliz habe den Angriff beeinflusst, der Täter sei möglicherweise in eine offenbar neu belebte Balkan-Connection des IS eingebunden gewesen. „Da ist eine langfristige Strategie zu erkennen“, sagt Freier, „das erhöht die Gefahr weiterer Anschläge der Terrormiliz – und das Risiko, dass Nachahmer als allein handelnde Täter zuschlagen“.

Salafisten und Muslimbrüder bilden Netzwerke

Der IS rekrutiert seine Anhänger aus der Szene der Salafisten. Sie sind die fanatischsten Islamisten, allein aus Deutschland sind einst mehr als 1000 nach Syrien zur Terrormiliz gereist. Doch der militärische Niedergang des IS und Vereinsverbote in der Bundesrepublik haben die hiesige Szene in die Defensive gezwungen. Weniger gefährlich ist sie jedoch nach Freiers Erkenntnissen keineswegs. Auch wenn sie derzeit nicht weiter wächst.

Die Zahl der Salafisten sei bei etwa 12 200 stehengeblieben, sagt Freier. Doch die Szene verfestige sich weiter, „durch alte und neue Netzwerke, auch bei salafistischen Frauen“. Es gebe „Ideologieschulungen und Spendenaktionen“. Außerdem näherten sich Salafisten und Muslimbruderschaft (MB) weiter an. Die 1928 gegründete, älteste islamistische Vereinigung der arabischen Welt tritt in Deutschland nach außen hin betont friedfertig und integrationsbereit auf.

„Die erwecken den Eindruck, sie könnten im Kampf gegen den Terror helfen“, sagt Freier. Doch intern werde der Kampf gegen Israel gepredigt. Die mit der Bruderschaft liierte palästinensische Terrorbewegung Hamas werde weiter unterstützt. So wird die MB auch für radikaler auftretende Salafisten attraktiv. „Wir beobachten, dass Salafisten in Moscheen der Muslimbrüder gehen“, sagt Freier. „So entstehen auch neue Netzwerke.“

Linksextremisten fast wie die RAF

Neben der Militanz von Rechten und Islamisten beunruhigt die Sicherheitsbehörden die wachsende Aggressivität eines Teils der linksextremen Szene. Vor allem in der Hochburg Leipzig. Das Jahr 2020 beginnt mit heftigen Krawallen im Szeneviertel Connewitz, doch Randale auf der Straße ist offenbar nur ein Teil des Problems. Anfang November nimmt die Polizei in Leipzig die Studentin Lina E. fest. Die Bundesanwaltschaft wirft der jungen Frau vor, eine kriminelle Vereinigung dirigiert zu haben.

Der linksextreme Trupp, mindestens ein Dutzend Personen, soll 2019 in Eisenach (Thüringen) eine Gaststätte überfallen haben, in der sich Rechtsextreme treffen. Bei dem massiven Angriff wurden mehrere Personen verletzt. Laut Bundesanwaltschaft folgte dann noch eine Attacke auf den Betreiber des Lokals. Im Juni 2020 sollen Lina E. und ihre Leute zudem in Leipzig die Wohnanschrift eines Rechtsextremisten ausgespäht haben, um ein Attentat auf ihn zu verüben.

Verfassungsschutzchef Freier mahnt, „hier gilt es wachsam zu bleiben und konsequent gegenzusteuern, um Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und zu verhindern, wie sie einzelne Gruppierungen Anfang der 1970er Jahre in Deutschland durchlaufen haben“. Eine Minderheit in der linksextremistischen Szene radikalisiere sich weiter, linksextremistische Taten würden professioneller, „die Hemmschwellen für schwere Gewaltdelikte sinken und die Taten sind direkt gegen Einzelpersonen gerichtet“. Das klingt wie die Frühphase der RAF.

Seehofer demonstriert mit Verboten Härte

Bei Terrorgruppen gelingt es den Behörden eher als bei Einzeltätern, rechtzeitig Informationen zu erhalten. Im Februar fliegt die Bande um den Rechtsextremisten Werner S. auf. Die Bundesanwaltschaft wirft den elf Männern vor, sie hätten mit Anschlägen auf Moscheen und politische Gegner „bürgerkriegsähnliche Zustände“ herbeiführen wollen. Im April wird in Nordrhein-Westfalen eine Terrorzelle des IS ausgehoben. Die fünf Tadschiken wollten US-Einrichtungen angreifen und einen Islamkritiker töten.

Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) zeigt Härte. Er verbietet die militant rechten Gruppen Combat 18, Nordadler und Sturmbrigade 44, den Reichsbürgertrupp „Geeinte deutsche Völker und Stämme“ und den Ableger der libanesisch-schiitischen Terrororganisation Hisbollah. So viele Schläge in einem Jahr hat noch kein Innenminister ausgeteilt.

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