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Heinrich Scholl im Gerichtssaal in Potsdam.

© dpa

Verurteilter Bürgermeister von Ludwigsfelde: Bis der Tod sie schied

Heinrich Scholl war beim Staatszirkus der DDR und badete nackt mit Klaus Wowereit. Nun sitzt der ehemalige Bürgermeister von Ludwigsfelde im Gefängnis. Die Journalistin Anja Reich hat einen eindrucksvollen Bericht über den "Fall Scholl" geschrieben.

Es lässt einen nicht los. Dieser aufsehenerregende Tod einer Politikerfrau – wirkt er nicht scheinbar unausweichlich? War es nicht geradezu schicksalhaft, dass der Bürgermeister von Ludwigsfelde seine Frau tötete? War der Mord an Brigitte Scholl nicht die psycho-logische Folge eines langen Lebens voller Demütigungen? Oder war er, im Gegenteil, der letzte, tödliche Beweis dafür, dass Heinrich Scholl ohne seine Frau nicht konnte, mit ihr aber auch nicht? Die Journalistin Anja Reich beantwortet diese Fragen nicht – und schon das spricht sehr für ihr Buch. Sie legt Antworten nahe und stellt auf gerade 200 Seiten, in einem angenehm uneitlen Stil geschriebenen, Material bereit: Lebens-Material, aus dem sich Fragen nach dem Schicksal ergeben, das Menschen verbindet.

In „Der Fall Scholl“ lernt man zwei Menschen auf fast intime Weise kennen. Mit jeder Seite ihres Buches wird die Lebensgeschichte der Scholls – kennt man das Ende – beklemmender, fast schrecklich. Zwei Leben, nicht untypisch für eine bestimmte Generation der DDR-Bürger, und doch zwei besondere Leben, besonders darin, wie sie aus ihrer ostdeutschen Herkunft, ihrer DDR-Sozialisation eine Erfolgsgeschichte machten.

Zwei Kriegskinder, sie 1944, er 1943 geboren. Sie hatte es leichter als er, sie war Tochter einer tatkräftigen Mutter, Chefin des ersten Frisörsalons in Ludwigsfelde, verheiratet mit einem notorisch untreuen Frauenjäger. Heinrich lebte von klein auf das Leben eines ungewollten, ungeliebten Kindes. Noch mehr gemeinsame Erfahrung: die Eltern vom Krieg innerlich versehrt, mit Neigungen zum Alkohol. Die Eltern: bestenfalls mal freundlich, meistens einfach hart.

Anja Reich, die mit Scholl einige lange Gespräche führte, schreibt über seine Prägung: „Heinrich Scholls früheste Kindheitserinnerung ist der Tag, an dem er im Garten seines Elternhauses ausrutschte und in die Jauchegrube fiel. Er konnte sich gerade noch so festhalten und auf allen vieren zurück auf die Wiese kriechen. Er stank wie die Pest, ihm war schlecht. Sein Vater fand ihn neben der Grube im Gras, und vielleicht war es das letzte Mal, dass Heinrich Scholl hoffte, er würde getröstet werden wie andere Kinder, wenn ihnen etwas Schlimmes passiert war. Die Schläge seines Vaters hat er nie vergessen. Als Erich Scholl starb, wenige Jahre später, vergoss sein Sohn keine Träne.“

Beide haben als junge Leute nicht viel geschenkt bekommen. Sie heirateten Ende 1964, Romantik war so wenig wie große Liebe. Sie war bereits Mutter eines Jungen, er war bereit, ihren Sohn mit großzuziehen. Ziemlich schnell verfestigte sich, was beider Beziehung wohl früh geprägt hatte: Sie beherrschte das Familienleben, er war ein gefügiger Macher. Das schien auf beide, für beide, zu passen. Sie war und blieb ein Kontrollfreak, er arrangierte sich und lebte einen gewissen Freiheits- und Gestaltungsdrang im Alltag bei der Arbeit aus.

Nach der Wende starten die Scholls durch

Fast typische DDR-Bürger-Biografien zweier Anpassungskünstler, bis zum Mauerfall: Mit der DDR haben beide nicht wirklich gehadert Auch in dieser Hinsicht hat Reichs Geschichte eine zweite Bedeutungsebene. Wer nicht in der DDR gelebt hat, erfährt hier, wie man sein Leben leben konnte, ohne ständig an die engen Grenzen des Systems zu stoßen. Allerdings hatte Heinrich Scholl einmal richtigen Ärger mit der Stasi gehabt, als er noch in leitender Tätigkeit im Nutzfahrzeugwerk in Ludwigsfelde war. Etwas zu deutlich und ohne Rücksicht auf anwesende Stasi-Leute hatte Scholl in einem auf Englisch geführten Gespräch mit schwedischen Handelspartnern eine politisch begründete Investition ins Werk für Unsinn erklärt. Auf den Verweis wegen „politischer Sabotage“ hin kündigte er und wurde „Techniker“ für die Sportanlagen von Ludwigsfelde.

Beide, Brigitte und Heinrich Scholl, nutzten die Chance, nach dem Untergang der DDR freier als je zuvor entscheiden zu können. Praktische Intelligenz, austrainierte Sekundärtugenden wie Fleiß, Verlässlichkeit, Belastbarkeit und Selbstdisziplin halfen der Kosmetikerin Brigitte Scholl, in Ludwigsfelde die Nummer eins in ihrer Branche zu werden. Und sie halfen Heinrich Scholl, vom unausgelasteten Techniker zum politischen Aufsteiger und Stadtentwickler zu werden.

Faszinierend, wie die Scholls die Wende meisterten und durchstarteten. Es war der Zufall, der unruhige Geister in offene Situationen führt, der Scholl zum Politiker machte. Er wollte etwas machen. Er lernte Klaus Wowereit kennen, der sich 1989/1990 berufen fühlte, südlich von Berlin-Tempelhof politische Entwicklungshilfe zu leisten. Er lernte Steffen Reiche kennen, der als einer von ganz wenigen kurz zuvor die Sozialdemokratische Partei in der DDR unter dem Kürzel SDP wiedergegründet hatte.

Brigitte Scholl.
Brigitte Scholl.

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Scholl war, wie die anderen auch, die später in Brandenburg politische Karriere machten, die Platzecks und die Speers, einer, der 1989 mit sich und anderen ganz neu anfangen konnte und wollte, einer, der die Möglichkeiten sah, nicht die Verluste. Eine alte Mitstreiterin aus der SPD, West-Berlinerin, sagte im Gespräch mit der Autorin, Scholl sei anders gewesen als die meisten Leute im Osten: „nicht gebrochen, ohne diese gebückte Haltung“.

18 kommunalpolitisch gloriose Jahre kamen. Scholl gewann Daimler-Benz – im früheren IFA-Werk werden heute Mercedes-Lieferwagen gebaut. Er machte Ludwigsfelde zum florierenden Industriestädtchen. Der ehemalige Sportanlagentechniker setzte sich mit dem Bau einer FKK-Therme ein Denkmal.

Doch Anja Reich legt noch andere Schichten dieser Biografie frei, und deshalb ist ihr Buch auch eine politisch-soziologische Studie über die Wendezeit und den Umgang mit Brüchen in der eigenen Lebensgeschichte: Wie sich ostdeutsche Macher mit westdeutschen Geldgebern zusammenfanden, wie eine sehr spezielle Aufbruchsstimmung entstand, die Erfolge brachte, aber auch einen Hauch von Größenwahn – das liegt eine Weile zurück und wird hier wieder lebendig.

Die Menschen, die aus den Trümmern der DDR mit hohem Tempo neu starteten, ignorierten gern mal die Grenzen. Das Eheleben der Scholls geriet zu einer tristen Mischung aus Kontrollsucht, Entfremdung, Resignation und Untreue – bis hin zu Scholls Liebschaft mit einer Thailänderin: sein Ausbruch in eine exzessive Form von Tristesse. Brigitte Scholl ließ ihn zurückkehren und bestrafte ihn für die Affäre – er musste fortan im Keller seines Hauses wohnen.

Zu den Stärken von Anja Reichs Buch gehört, dass sie zahllose Situationen und Erlebnisse recherchiert hat, die die Beziehung der Scholls – auch wenn sich das makaber liest – lebendig machen. Reich will verstehen und verständlich machen, nicht urteilen, um dem „Fall Scholl“ die Rätselhaftigkeit zu nehmen. Nach Auffassung der Gerichte – die Scholl bestritten hat – war das Verbrechen an Brigitte Scholl ein Klassiker: Tötung des Intimpartners – ein Befreiungsschlag, der Scholl wohl für den Rest seines Lebens zum Strafgefangenen machen wird.

– Anja Reich: Der Fall Scholl. Das tödliche Ende einer Ehe. Ullstein extra, Berlin 2014. 208 Seiten Seiten, 14,99 Euro.

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