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Der Wille von rund sieben Millionen Wählern ist im Bundestag nicht präsentiert. Muss die Sperrklausel gesenkt werden oder gar fallen?

© dpa

Sperrklausel verzerrt Wahlen: Besser Drei- als Fünf-Prozent-Hürde

Die etablierten Parteien fürchten um die Fünf-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl. CDU-Politiker wollen sie deshalb in die Verfassung schreiben. Unser Kolumnist Christoph Seils meint: Das ist keine gute Idee.

In zwei Monaten wird ein neues europäisches Parlament gewählt. Seit das Bundesverfassungsgericht die Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl für verfassungswidrig erklärt hat, ist die Wahl auch ein großes Demokratie-Experiment. Legt man das Ergebnis von 2009 zugrunde, hätten neben den sechs etablierten Parteien, sieben weitere Parteien und Wählervereinigungen den Sprung nach Europa geschafft. Nach der Europawahl am 25. Mai könnte dies ähnlich aussehen. Die Auswirkungen dieses Demokratie-Experiments werden auch in der Innenpolitik zu spüren sein. Der verfassungsrechtliche Druck auf die Fünf-Prozent-Hürde wird weiter zunehmen. Der Ruf derjenigen, die die Abschaffung der Fünf-Prozent-Hürde fordern, wird lauter werden.

Das bundesdeutsche Wahlrecht ist kompliziert und das dies so ist, hat viele Gründe. Vom Grundsatz „one man, one vote“ hat sich dieses weit entfernt. Dabei ist die Vorgabe des Grundgesetzes eigentlich eindeutig. Im Artikel 38 Grundgesetz heißt es: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt“. Doch die Liste der Urteile des Bundesverfassungsgerichts ist lang. Immer wieder musste Karlsruhe eingreifen, wenn die Bundestagsparteien der Verlockung nicht widerstehen konnten, allzu offensichtlich ein sie privilegierendes Wahlrecht zu beschließen.

Zweifel am Grundsatz der gleichen Wahl

Was eine gleiche Wahl bedeutet, das hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Sperrklausel bei Europawahlen noch einmal klargestellt: „Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben“. Und weiter heißt es in dem Urteil: „Bei der Verhältniswahl verlangt der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit darüber hinaus, dass jeder Wähler mit seiner Stimme auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss.“

Das Problem ist, auch bei Bundestagswahlen kann keine Rede mehr davon sein, dass jeder Wähler mit seiner Stimme den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments hat. Am Grundsatz der gleichen Wahl gibt es mittlerweile also erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel. Bei der Bundestagswahl am 27. September vergangenen Jahres blieben bei der Verteilung der Mandate 15,7 Prozent aller Stimmen außen vor. Wegen der Fünf-Prozent-Hürde ist damit der politische Wille von rund sieben Millionen Wählern im Bundestag nicht repräsentiert. Die gleiche Wahl ist nur noch verfassungsrechtliche Theorie.

Schon fürchten Verfassungsrechtler, nach der Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl könnte schon bald auch die Fünf-Prozenthürde bei der Bundestagswahl fallen. Und schon wird vor allem in den Unionsparteien deshalb darüber diskutiert, mit der Mehrheit der Großen Koalition das Grundgesetz zu ändern und die Fünf-Prozent-Hürde dort festzuschreiben.

Doch erstens würde dies der Logik der Wahlgrundsätze des Grundgesetzes widersprechen. Bislang ist dort nicht einmal festgeschrieben, ob es in Deutschland ein Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht gibt. Zweitens hat das Bundesverfassungsgericht bereits angekündigt, dass es sehr genau hinschauen wird, sollte die Mehrheit der Bundestagsparteien ein Wahlrecht beschließen, das nur dem eigenen Machterhalt dient. “Weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt, unterliegt aber die Ausgestaltung des Wahlrechts hier einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle.“

Senkung der Sperrklausel

Noch gilt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1990, in dem die Verfassungsrichter „im Interesse eines funktionsfähigen Parlaments“ die Fünf-Prozent-Hürde legitimierten und dem Gesetzgeber erlaubten, „den Erfolgswert der Wählerstimmen unterschiedlich zu gewichten“. Doch nicht zum ersten Mal haben die Karlsruher Richter in ihrem aktuellen Wahlrechtsurteil deutliche Hinweise versteckt, sie könnten dies irgendwann auch anders sehen. „Eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel darf daher nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden,“ heißt es dort. „Eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung kann sich ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern.“

Es kann kaum bestritten werden, dass sich die Verhältnisse bei Bundestagswahlen wesentlich verändert haben. Erstens wird durch die Fünf-Prozent-Hürde mittlerweile in nicht mehr vertretbarem Ausmaß die Wahlgleichheit verletzt. Zweitens muss auch die Frage der Funktionsfähigkeit des Parlaments neu gestellt werden. Angesichts der Tatsache, dass schon im Vier-Fraktionen-Parlament außer einer Großen Koalition keine Mehrheit mehr möglich scheint, können die Bundestagsparteien kaum begründen, dass es durch eine niedrigere Sperrklausel zu mehr Funktionsstörungen im Parlament kommen würde.

Das Demokratieexperiment der Europawahl, bei dem die Wähler erstmals in der Bundesrepublik bei einer nationalen Wahl ohne Sperrklausel abstimmen dürfen, wird den Gesetzgeber erheblich unter Druck setzen. Die Fünf-Prozent-Hürde wankt. Es wäre deshalb besser die Sperrklausel zu senken, auf drei Prozent zum Beispiel, bevor das Bundesverfassungsgericht die Bundestagsparteien erneut blamiert.

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