zum Hauptinhalt

Materialismus und Glaube: Halbierte Wirklichkeit

Der heutige Materialismus beruft sich auf die Naturwissenschaft – zu Unrecht. Deshalb liefert er auch keine überzeugende Alternative zum Christentum.

In der Architektur gibt es Moden, die kommen und gehen, und keiner weiß, warum. So baute man bis in die 60er Jahre ausschließlich Häuser mit Satteldach, während es heute ein Flachdach sein muss. Wer vor 50 Jahren ein Flachdach baute, war ein Avantgardist im Gefolge des Bauhauses oder ein Verrückter, während man heute ein Haus mit Satteldach für altbacken hält. Leider gibt es solche Verhältnisse auch in der Philosophie und Wissenschaft. So war es zum Beispiel vor 200 Jahren Mode, Hegelianer zu sein. Der Hegelianer nimmt an, dass es in Wahrheit nur den Geist gibt und dass die Natur bis hinab zur kruden Materie in Wahrheit nichts als Geist ist. Heute ist im Gegenteil ein materialistischer Monismus herrschend. Man geht davon aus, dass die Welt hauptamtlich und ausschließlich aus Materie besteht und die höheren Formen – wie das Lebendige oder das Geistige – dann nur bestimmte materielle Konfigurationen sind. In dieser Lesart ist der Geist das Gehirn, das Lebendige sind die Gene und die Moral ist eine Erfindung von der Art der Verkehrsregeln, die auch nur Konventionen sind.

Dabei macht sich der heutige Materialismus das gute Gewissen der Naturwissenschaft zunutze. Wenn man Physik, Chemie, Biologie oder Informatik akzeptiert, dann muss man auch den Materialismus akzeptieren, so die These. Es kann aber gezeigt werden, dass der Materialismus keine Konsequenz der Naturwissenschaft ist, sondern dass er zu Unrecht als Berufungsinstanz herangezogen wird. Das zeigt sich schon daran, dass bedeutende Naturwissenschaftler wie Max Planck oder Albert Einstein Theisten waren. Es gibt aber auch Buddhisten, Agnostiker, Pantheisten und alles Mögliche unter ihnen. Der Grund ist der, dass die Naturwissenschaft weltanschaulich neutral ist oder es jedenfalls sein sollte.

Manche, wie Richard Dawkins, Bernulf Kanitscheider oder Ulrich Kutschera vertreten hingegen einen aggressiven Materialismus, der sich vornehmlich gegen die Religion richtet. Man spricht in diesem Zusammenhang vornehm von ,Naturalismus‘ oder ,Physikalismus‘, das klingt freundlicher, aber es handelt sich trotzdem um einen weltanschaulichen Materialismus. Systematisiert wurde diese Position in der Leib-Seele-Debatte der Analytischen Philosophie. Dort findet man klar dargestellt die Prinzipien, auf denen diese Weltanschauung beruht. Es scheinen im Wesentlichen drei Prinzipien zu sein, die 1. die Basis, 2. die Statik und 3. die Dynamik der Welt betreffen. Es wird sich aber zeigen, dass alle drei Prinzipien zwar gültig sein müssen, wenn der Materialismus wahr sein soll, dass sie aber keine Konsequenz der Naturwissenschaft sind, sondern Dogmen, an die die Materialisten inbrünstiger glauben als so mancher Religiöse an Jesus Christus.

1. Als Basis der bunten Erscheinungen dieser Welt setzt der Materialist selbstverständlich die Materie als den letzten tragenden Grund aller Dinge. Das hört sich plausibler an, als es ist, denn jedes Mal, wenn die Physiker behauptet hatten, sie seien auf den letzten Grund der Dinge gestoßen, kam einer, der sie eines Besseren belehrte. Es spricht nichts dafür, dass der Forschungsprozess jemals an ein Ende gelangt. Die Physik ist einfach nicht dafür gemacht, eine Letztbegründung zu liefern. Das liegt an ihrem hypothetischen Charakter. Physikalische Aussagen sind Wenn-dann-Aussagen. Wenn die und die Voraussetzungen gegeben sind, dann folgt das und das. Aber wer erklärt uns die Voraussetzungen? Man kann zwar die Fundamente tiefer legen und genau das ist es, was wir unter ,Fortschritt‘ verstehen, aber wenn wir zum Beispiel die Prinzipien der Newton’schen Physik aus den Einstein’schen Gleichungen ableiten, dann müssen wir wieder Voraussetzungen machen, die wir nicht erklärt haben. Wir kommen nie auf ein Letztes und deshalb gibt es auch keinen eindeutigen Materiebegriff in der Physik.

2. Die Statik des Universums wird durch das sogenannte ‚Supervenienzprinzip‘ beschrieben. Es besagt in Kürze, dass die materielle Basis den Überbau bestimmt, betrifft also die Statik und die hierarchischen Verhältnisse im Universum. Nach diesem Prinzip kann niemals der Fall eintreten, dass zum Beispiel mein Geist von der Vorstellung A zur Vorstellung B übergeht, ohne dass sich in meinem Gehirn etwas verändert. Die Hirnzustände legen die Geisteszustände zwingend fest, und so ist es mit allen höheren Eigenschaften. Die Materie ist der Schlüssel zur Realität.

Nun gibt es aber gravierende Einwände gegen dieses Prinzip. Wenn zum Beispiel der Inhalt unserer Vorstellungen eine soziale Komponente hat, dann könnte der Fall eintreten, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern und damit der Inhalt unserer Begriffe, was nicht auf unsere Gehirnzustände zurückgeführt werden könnte. Oder wenn zum Beispiel in der Frühzeit der Evolution Tiere Flaumfedern zur Wärmeregulierung entwickelten, dann waren diese Flaumfedern zugleich nützlich, um einen Sprung in die Tiefe zu bremsen, wenn ein Tier verfolgt wurde und vom Baum sprang, um sich zu retten. Es fand also eine Zweckverschiebung statt, ohne dass sich ein Atom in den Flaumfederchen veränderte. Solche Fälle gibt es viele. Das Supervenienzprinzip ist also keine Konsequenz der Naturwissenschaft.

3. Dasselbe gilt für das Kausalprinzip oder, wie man es auch genannt hat, das Prinzip von der kausalen Geschlossenheit der Welt. Es hat zum Inhalt, dass ein materieller Weltzustand 1 die hinreichenden Bedingungen zur Verfügung stellt, dass Weltzustand 2 zwingend eintritt. Das heißt: Die Dynamik des Universums hängt an einer geschlossenen Kette, bei der immer das eine das andere notwendig zur Folge hat. Wenn das der Fall wäre, dann hätte der Geist keine Chance, weder der menschliche noch der göttliche Geist. Die Welt selbst, von ihrem materiellen Seinsbestand her, würde alles schon regeln. Wenn ich zum Beispiel aus freien Stücken handle, dann hat die Materie schon alle kausale Arbeit verrichtet und mein Freiheitsdrang hat keine Chance mehr. In einer solchen Welt könnte auch Gott nicht eingreifen. Er wäre zur Untätigkeit verdammt.

Starke Raucher haben eine Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent, Lungenkrebs zu bekommen

So plausibel, wie sich das anhört, so falsch ist es auch, und dies aus einem ganz einfachen Grund: Wir gebrauchen nämlich das Wort ‚Kausalität‘ in verschiedenen Zusammenhängen ganz verschieden. Man sprach seit Hume gerne von der Kausalität als dem ‚Zement des Universums‘, aber dieser Zement bröckelt, denn er setzt sich aus ganz verschiedenen Komponenten zusammen, die kein Ganzes ausmachen. So ist zwar die Meinung verbreitet, dass die notwendige Beziehung zwischen Ursache und Wirkung durch deterministische Naturgesetze vermittelt wird. Dann folgt die Wirkung zwingend auf die Ursache. Es gibt aber auch statistische Gesetze, wie zum Beispiel in der Medizin. Starke Raucher haben eine Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent, im Alter Lungenkrebs zu bekommen. Aber das heißt, dass das Rauchen den Krebs nicht zwingend zur Folge hat, oder umgekehrt kann jemand Lungenkrebs bekommen, der nie rauchte. Hier ist die Notwendigkeit der Verbindung aufgehoben und wir können nicht mehr von einer ‚kausalen Geschlossenheit der Welt‘ sprechen. Sind es Zufälle, die dafür verantwortlich sind, dass jemand dann doch Lungenkrebs kriegt? Dann wäre der Zufall eine Ursache, und so reden wir ja auch oft genug. Mutationen sind die Ursache für die bunte Vielfalt der Naturformen oder Zufallsschwankungen der Mikrophysik sind die Ursache dafür, dass es im Geigerzähler ‚klick‘ macht. Aber das ist ein exotischer Begriff von ‚Ursache‘, denn er würde keinem Naturgesetz folgen und wäre seinerseits keine Wirkung einer noch früheren Ursache, was wir doch gerne fordern, wenn wir die Vorstellung von geschlossenen Kausalketten haben. Mit einem Wort: Wir sprechen von ‚Ursache und Wirkung‘ in ganz verschiedenen Zusammenhängen und haben dann einen völlig verschiedenen Begriff von ‚Ursache und Wirkung‘. Die materialistisch-monistische Vorstellung von einem einheitlichen Zement des Universums ist eine Illusion.

Blickt man näher hin, dann ist unsere Urerfahrung von Kausalität das freie Eingreifen des Menschen in die Natur: Wir wissen, was es heißt, für etwas verantwortlich zu sein, etwas in die Wege zu leiten, und dieser Praxisbegriff von kausaler Wirksamkeit ist wie die Grundlage, auf die all die verschiedenen Konzepte zurückverweisen. Im Grunde ist das auch so beim Begriff der ‚Materie‘. Streng genommen kommt er in keiner einzigen physikalischen Formel vor, aber aus dem Alltag wissen wir dennoch, was ‚Materie‘ ist. Sie ist das Widerständige, Vorgegebene, was unser eingreifendes Handeln ermöglicht. Weil wir immer schon mit Materie umgehen, wissen wir, worum es sich dabei handelt.

Die materialistischen und spiritualistischen Extreme sind sinnlos

Damit haben wir ein wichtiges Ergebnis. Es verhält sich nicht so, dass die Naturwissenschaft alles und jedes erklärt, sondern sie macht nicht nur theoretische, sondern auch lebensweltlich-praktische Voraussetzungen. Unser praktisches In-der- Welt-Sein ist die Basis aller Wissenschaft, nicht umgekehrt. Erst wenn wir uns in der umgebenden Natur zurechtgefunden haben, können wir anfangen, Experimente zu machen und Theorien zu entwickeln. Der Mensch ist ein Zentralphänomen, oder wie der Philosoph Schelling sagte: „Der Mensch ist das herumwandelnde Problem der Philosophie“ – das heißt, ihr Ausgangspunkt.

Der heutige Materialismus krankt daran, dass er dieses natürliche In-der-Welt-Sein nicht wirklich ernst nimmt. Das fundamentale In-der-Welt-Sein ist aber weder materialistisch noch spiritualistisch verstehbar. In Wahrheit ist der Mensch ein Seinsknoten, in dem sich Geist und Materie überkreuzen. Wir sind immer beides zugleich und erfahren uns auch als solches. Wenn ich zu viel getrunken habe, wirkt die materielle Substanz des Alkohols auf meinen Geist ein, und wenn ich gut gelaunt bin, stärkt das womöglich mein Immunsystem. Dann wirkt der Geist auf die Materie. Das heißt: Wir sind psychosomatische Wesen mit zwei Polen, einem geistigen und einem materiellen. Aber dann sind alle Formen des Monismus falsch. Weder besteht die Welt aus Materie und nichts als Materie, noch ist sie ein verkleideter, versteckter Geist. So wie es töricht ist, nur Sattel- oder Flachdächer zu bauen, so sind auch die materialistischen und spiritualistischen Extreme sinnlos.

Hans-Dieter Mutschler ist Professor für Natur- und Technikphilosophie an der Hochschule Ignatium in Krakau, Dozent für Naturphilosophie an der Philosopisch-Theologischen Hoschule St. Georgen und Lehrbeauftragter an der Universität Zürich.
Hans-Dieter Mutschler ist Professor für Natur- und Technikphilosophie an der Hochschule Ignatium in Krakau, Dozent für Naturphilosophie an der Philosopisch-Theologischen Hoschule St. Georgen und Lehrbeauftragter an der Universität Zürich.

© Barbara Fuchs/Wikipedia.

Wenn das so ist, eröffnet sich uns erneut die Möglichkeit eines religiösen Weltverhaltens. Der Materialismus schließt ein solches Weltverhalten aus. Aber wir haben gesehen, dass er sich nicht auf die Naturwissenschaft stützen kann. Der Materialismus ist seinerseits ein Glaube und wir könnten die Frage stellen, ob er als Glaube überzeugender ausfällt als der religiöse Glaube. Solche Fragen sind keine wissenschaftlichen Fragen mehr und sie lassen sich auch nicht durchs Experiment beantworten. An dieser Stelle sollten wir uns vielmehr fragen, welche Weltanschauung die geeignetere ist, um die Grundlage für ein gelungenes Leben zu liefern. In dieser Hinsicht ist der Materialismus extrem schwach. Nicht nur, dass er keine Legitimationsgrundlage in der Naturwissenschaft hat, er hat auch zu den fundamentalen Fragen des Menschen nichts zu sagen, zu den Fragen nach Liebe, Schuld, Glück, Freiheit, Erfüllung. Und solange das so ist, kann man dem antireligiösen Affekt der heutigen Materialisten mit großer Gelassenheit begegnen. Seit dem 19. Jahrhundert und bis heute hat noch keine Form des Materialismus eine überzeugende Alternative zur traditionellen Form des Christentums angeboten.

Von Hans-Dieter Mutschler ist gerade im Verlag Butzon & Bercker erschienen: "Halbierte Wirklichkeit. Warum der Materialismus die Welt nicht erklärt" (340 Seiten, 24,95 Euro).

Hans-Dieter Mutschler

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false