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Warum neigen Jungen und Männer so viel häufiger zu Gewalt als Mädchen und Frauen? Weil sie vergessen wurden, sagt der Autor Walter Hollstein.

© dpa

Mann, oh Mann: Das vergessene Geschlecht

Brutal prügelnde Jugendliche schreckten die Republik auf. Es sind die Taten einer verzweifelten und orientierungslosen Generation junger Männer. Ein Gastkommentar.

Vor 25 Jahren hat die amerikanische Männerzeitschrift „Man“ einen wegweisenden Artikel veröffentlicht. Die These: „Wir haben es mit einer sozialen Krankheit zu tun; sie heißt: unreife Männlichkeit.“ All diejenigen, die sich heute nicht mehr „einkriegen“, hätten keine Chance gehabt, Männlichkeit sinnvoll zu erfahren. „Es wurden ihnen nur negative Klischees vom Mann gezeigt – von überbeschützenden Müttern, die sich beim Sohn über den Vater beschwerten, und später von den Feministinnen.“ Nun „laufen sie als alt gewordene Jungen herum und sind tickende Zeitbomben. Sie sind unglücklich. Aber sie haben auch nichts dagegen, andere unglücklich zu machen“. Sie schlagen, um bei aktuellen Beispielen zu bleiben, scheinbar grundlos Passanten zusammen, zünden Autos an oder machen als so bezeichnete „Eventchaoten“ Randale.

Das Problem ist noch etwas grundsätzlicher. In den vergangenen vierzig Jahren hat sich die Politik auf die Förderung von Mädchen und Frauen konzentriert; dass es noch ein anderes Geschlecht gibt, geriet dabei in Vergessenheit. „Unsere Söhne haben Probleme“, schreibt William Pollack, einer der bedeutendsten Jungenforscher, „und diese Probleme sind gravierender, als wir denken“. Selbst die Jungen, die nach außen den Anschein erweckten, mit dem Leben gut zurechtzukommen, seien davon betroffen. „Gemeinsam mit anderen Forschern musste ich in den letzten Jahren erkennen, dass sehr viele Jungen, die nach außen hin ganz unauffällig wirken, in ihrem Inneren verzweifelt, orientierungslos und einsam sind.“ Diese Gefühle leben sie dann oft mit Wutattacken, Zerstörungen oder mit Gewalt gegen andere aus. Was brutal wirkt und es auch ist, ist tiefster Ausdruck einer furchtbaren Hilfs- und Orientierungslosigkeit. Es darf in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen werden, dass sich Männergewalt häufig gegen sich selbst richtet. Männer bringen sich in Deutschland mehr als dreimal so häufig um wie Frauen und Jungen sogar achtmal häufiger als Mädchen.

Das alles ist, folgt man den Ergebnissen der Forschung, Ausdruck einer tiefen Verunsicherung. Jungen können sich heute nicht mehr an allgemein gültigen Bildern von Männlichkeit orientieren, wie das früher der Fall war. Stattdessen müssen sie sich allein zurecht finden – nicht zuletzt, weil das die männliche Rolle von ihnen verlangt. Das ist ganz eindeutig eine Überforderung.

Jungen werden inzwischen in einer gesellschaftlichen Konstellation groß, die ihnen keine authentische Verhaltenssicherheit vermittelt. Das traditionelle Männerbild wird überall kritisiert; Männer werden als Defizitwesen hingestellt, die schon mit großen Defekten auf die Welt gekommen seien und eigentlich nur alles falsch machten. Die Sinus-Studie über die Lebensentwürfe 20-jähriger Frauen und Männer, die die deutsche Bundesregierung 2007 in Auftrag gegeben hat, belegt die männlichen Zukunftsängste. Den jungen Männern fehlen in Bezug auf ihre eigene Geschlechtsidentität „die positiven Vorbilder zur Orientierung.“ Sie äußern gar die Befürchtung, demnächst „gesellschaftlich überflüssig zu werden“.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, welche dramatischen Auswirkungen die Ratlosigkeit auf die Entwicklung der Jungen hat.

Die Ratlosigkeit der Jungen ist inzwischen zur offenkundigen Krise mutiert. Jungen haben immer häufiger Entwicklungsstörungen. Ihre Suizidrate steigt. Sie brechen vermehrt Schule und Ausbildung ab. Jugendkriminalität ist heute fast ausschließlich Jungenkriminalität, selbiges gilt für Gewalt oder Hooliganismus.

Das Frauenbild hat sich in den vergangenen Jahrzehnten modernisiert und um Qualitäten wie Durchsetzungsfähigkeit, berufliche Kompetenz oder Wettbewerbsfähigkeit erweitert. Im Gegensatz dazu hat sich das Männerbild sogar traditionalisiert. Das belegen unter anderem große repräsentative Untersuchungen wie die Shell- und Sinus-Studien. Männlichkeit wird nach wie vor primär an Leistung, dem Berufserfolg und dem eigenen Status festgemacht. Jungen werden von Geburt an auf Erfolg getrimmt. Entgegen dem Tatbestand, dass weibliche Neugeborene viel weniger anfällig für Krankheiten sind, konfrontieren vor allem Väter ihre Söhne von Anbeginn an mit einer harten Lebenswirklichkeit von Anstrengung, Kampf und Härte.

Die Botschaft ist eindeutig, Warren Farrell fasst sie zusammen: „Wenn du Erfolg hast, bekommst du Liebe und Anerkennung; wenn du versagst, bist du ein Nichts.“ Dementsprechend werden geschlechtsspezifische Aktivitäten von Jungen, die ihre Leistungsbereitschaft erhöhen, gefördert. Verhalten, das dem widerspricht, wird deutlich bestraft. Dazu gehören nach wie vor auch die körperliche Züchtigung und die psychische Erniedrigung („Memme“, „Weichei“, „Versager“). Pollack geht davon aus, dass in den USA zwischen 75 und 90 Prozent der Jungen geschlagen werden. Zahlen aus dem deutschsprachigen Raum liegen auf einem vergleichbaren Level. So haben Lamnek und Otermann unterschiedliche Forschungsergebnisse geprüft und zusammengefasst. Demnach wenden 61 Prozent der Mütter und 67 Prozent der Väter leichte körperliche Gewalt gegen ihre Kinder an und 29 Prozent der Mütter und 26 Prozent der Väter schwere körperliche Gewalt. „Schläge und Misshandlung“, so schreibt beispielsweise Hans-Christian Harten „prägen die Lebenserfahrung von Jungen weit mehr als die von Mädchen“.

In der Vorbereitung auf das erwachsene Leben lernen Jungen wenig von dem, was Beziehung, Liebe und Partnerschaft erfordern. Insofern ist der provokante Ausspruch des amerikanischen Arztes Ronald F. Levant durchaus treffend, dass das Familienleben für Männer ein fremdes Land darstellt, dessen Sprache sie nicht sprechen. Grundlegende Fähigkeiten für intime und soziale Beziehungen wie Empathie, Mitgefühl, Fürsorglichkeit, Nähe, Dialogbereitschaft, Geduld oder Frustrationstoleranz sind nach wie vor weiblich etikettiert. Im männlichen Sozialisationsprozess kommt ihnen nur eine untergeordnete Rolle zu.

Tickende Zeitbomben: Die jungen Männer von heute.
Tickende Zeitbomben: Die jungen Männer von heute.

© Zeichnung: Klaus Stuttmann

Regungen von Schwäche, Hilflosigkeit und Traurigkeit kann ein solches Männerbild nicht zulassen. Sie müssen also abgespalten und verdrängt werden. Das innere Ungleichgewicht, das daraus entsteht, soll mit äußeren Erfolgserlebnissen wettgemacht werden. Führen diese auf Dauer nicht zu den erwünschten Ergebnissen, kann der Mangel an Ichstärke nur noch projektiv ausgeglichen werden. Die eigenen Schwächen und Misserfolge werden dann auf körperlich Unterlegene, Ausländer oder Behinderte und verschoben. Diese Konstruktion, sich anderen überlegen zu fühlen, verleiht eine Pseudostärke. Die Schuld für die eigenen Probleme, den sozialen Abstieg, Misserfolge bei Frauen, Schwierigkeiten mit den Mitmenschen und das diffuse Unbehagen kann dergestalt auf Andere projiziert werden. Auch die innere Wut über das eigene Versagen und den damit verbundenen Selbsthass werden exorziert, indem sie in Gewalt umgesetzt werden.

Das erklärt die scheinbar unerklärliche Brutalität, mit der Angegriffene im Wutrausch gefoltert, blutig geschlagen und totgetreten werden. Wer sich schwach fühlt, aber stark sein will, wird brutal. Da er sich selber nicht als Mann mit Schwächen und Mängeln wahrzunehmen wagt, verliert er alle Menschlichkeit und hält sich als Mann nur noch in der Fassade des Unmenschen.

Studien und jüngste Ereignisse belegen, dass junge Männer mehr und mehr verwahrlosen. Lesen Sie weiter auf der letzten Seite.

Nun ist das selbstverständlich kein Allgemeinschicksal. Es betrifft Einzelne – aber in zunehmendem Maße. Die beschriebene männliche Sozialisation bedarf bestimmte Verstärker- oder Auslösefaktoren, um in Brutalität umzuschlagen. Dazu gehört, wie zum Beispiel die Studie „Schwere Gewaltkriminalität durch junge Täter in Brandenburg“ zeigt, ein Umfeld, das sozial instabil ist und Gewalt in der eigenen, meist unvollständigen Familie. Für viele junge Täter ist Gewalt schlicht normal, weil sie damit alltäglich groß geworden sind. Auch die Brandenburger Studie verweist auf die Problematik fehlender Vorbilder. Nun soll man sich vor einfachen Kausalitäten hüten, aber immerhin ist bedenkenswert, dass zirka 80 Prozent der männlichen Jugendlichen, die in amerikanischen Gefängnissen einsitzen, ohne Vater aufgewachsen sind. Die empirische Jungenliteratur belegt den klaren Zusammenhang von Vater-Präsenz und gesunder Entwicklung des Sohnes auf der einen Seite und umgekehrt von Vater-Absenz und der hohen Gefahr des Scheiterns, innerer Verwahrlosung, Sucht, Kriminalität, Gewalt und Suizid der alleingelassenen Söhne.

Wer im tiefsten Innern nicht weiß, wo es lang geht, muss sich orientierungslos und schmerzhaft Rang- und Revierkämpfen und verzerrten Männlichkeitsritualen stellen. Der Druck der Gleichaltrigen ist dabei überhart.

Sozialwissenschaften sprechen von der zunehmenden Proletarisierung oder Prekarisierung junger Männer. In der Tat bleiben inzwischen die meisten männlichen Hauptschüler ohne Ausbildung und damit ohne Perspektive. Vor dieser Entwicklung haben weitsichtige Soziologen wie zum Beispiel Ralf Dahrendorf schon vor fünfzehn Jahren gewarnt, ohne dass Staat und Gesellschaft dies in irgendeiner Weise aufgenommen hätten. Hatte Dahrendorf noch die Gefahr wachsender Gruppierungen von jungen Männern benannt, die aus der Arbeitsgesellschaft herausgefallen sind und sich aufgrund eines traditionalistischen Männerbildes auch keinen veränderten Bedingungen anpassen können, gibt es inzwischen europaweit ganze Stadtviertel, die von diesen „angry young men“ geprägt werden. Dort herrschen soziale Verelendung, Hoffnungslosigkeit, Apathie und zwischenmenschliche Verwahrlosung, die sich jederzeit entladen können, wie vor kurzem in englischen Großstädten geschehen.

Diese Entwicklung trägt sich aber auch zunehmend in die großen Städte der deutschsprachigen Region. In Berlin, Duisburg, Hamburg, Wien oder Zürich gibt es Quartiere, die sich sozial, politisch und in ihrer kulturellen Ausformung von der jeweiligen Gesamtstadt abkoppeln und ihre Randexistenz zunehmend zementieren. Jungen und junge Männer werden hier mit Elend und Arbeitslosigkeit groß und verharren entweder widerstandslos in der Aussichtslosigkeit, indem sie auf Dauer von den Sozialmaßnahmen des Staates leben. Oder aber sie entwickeln aggressive Überlebenstechniken, die in die Kriminalität, in den Knast oder in tödliche Auseinandersetzungen führen. Solche Trends hat das „Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung“ in seiner Studie „Not am Mann“ beispielhaft für die neuen Bundesländer beschrieben. Diese Entwicklung wird sich verstärken, wenn sich die Misserfolge von Jungen in Schule, Ausbildung und Beruf weiterhin eine Konstante bleiben.

Der gesellschaftliche Zusammenhalt hat sich in den letzten Jahren deutlich abgeschwächt. Normen und Werte, die einst noch gültig waren, sind erodiert. So hat sich auch der Respekt vor der Polizei als Ordnungsmacht aufgelöst; sie wird immer häufiger angegriffen. Der zunehmende Wertezusammenbruch verstärkt sich durch die Wirtschaftskrise und die diversen Szenarien des ökonomischen Zusammenbruchs. Das löst vor allem bei jungen Menschen eine Art Endzeitstimmung aus. „Die Gesellschaft geht ja eh in die Brüche, dann können wir auch dazu beitragen.“ Durch die Hintertür kommt der Slogan der Jugendbewegungen aus den sechziger und achtziger Jahren zurück: „Macht kaputt, was euch kaputt macht.“ Nur ist das diesmal nicht ideologisch begründet, sondern der emotionale Ausdruck von Perspektiv- und Orientierungslosigkeit. Nicht Eventchaoten, wie die neue Zuschreibung von außen heißt, sondern Endzeitchaoten. „Nach uns die Sintflut“ – sie kommt ja sowieso.

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