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Politische Theorie.

© Karikatur: Klaus Stuttmann

Macht des Gemeinwesens: Das Unbehagen an der Demokratie

Erinnert 2013 an 1968? Damals wie heute gibt es eine Grunderfahrung von Kontrollverlust und Ausgeliefertsein. Finanzkrise und Euro-Rettung nähren das Bedürfnis, das Gemeinwesen neu zu stärken. Und die Macht der Märkte muss neu autorisiert werden.

Noch nie gab es so viele Demokratien in Europa wie heute – und wohl zu keiner Zeit seit den vierziger Jahren ist die Unzufriedenheit mit der real existierenden Demokratie so groß. Doch diese Unzufriedenheit bleibt doppelt diffus: Sie ist noch auf keinen plausiblen Begriff gebracht worden, außer vielleicht das Modewort „Postdemokratie“; und sie artikuliert sich in keinem klaren Forderungskatalog von Massenbewegungen, wo es sie denn – wie in Spanien – überhaupt gibt.

Die Rede von der „Krise der Demokratie“ kommt einem leicht über die Lippen; Hans Magnus Enzensberger fragte gar kürzlich: „War die Demokratie wirklich eine so schlechte Idee, dass auf sie notfalls verzichtet werden kann?“ Aber gleichzeitig verschlägt uns die Krise die politische Sprache, denn es fehlen Maßstäbe für das, was wir von und mit der Demokratie eigentlich wollen. Ein historischer Rückblick auf die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zeigt, dass dies bei Weitem nicht die erste große Krise scheinbar konsolidierter Demokratien in Europa ist – und wie sich das durchaus berechtigte Unbehagen am Zustand unserer Demokratien produktiv (und nicht destruktiv) verstehen lässt.

Viele Historiker haben die Zeit nach 1945 in Westeuropa mit dem Etikett „Rückkehr der Demokratie“ versehen. Dies übersieht jedoch, dass die Architekten der Nachkriegsordnung in Kontinentaleuropa das Ideal der Volkssouveränität mit gehöriger Skepsis betrachteten. Wie konnte man auch Völkern, welche eben noch Faschisten an die Macht gebracht oder während des Krieges mit faschistischen Besatzern kollaboriert hatten, die Bestimmung ihres politischen Schicksals anvertrauen? Nicht nur direkte Demokratie war suspekt; auch Volksvertretungen waren eine potenzielle Quelle von Gefahren. Waren es nicht legitime Parlamente gewesen, die einem Hitler oder einem Marschall Pétain, dem Führer des autoritären Vichy-Frankreich, 1933 beziehungsweise 1940 alle Macht übertragen hatten? Demokratie stand also keineswegs im Gegensatz zu Totalitarismus; vielmehr war Totalitarismus, so die Sorge nicht nur konservativer Eliten, ein potenzieller Auswuchs von Demokratie.

Somit entschieden sich die Gründerväter der Gemeinwesen nach 1945 für ein neues Verständnis von Demokratie, welches sowohl dem Volkswillen also auch dem Tun politischer Eliten klare Schranken setzte. Das Grundgesetz mit seinen Ewigkeitsklauseln ist ein herausragendes Beispiel hierfür. Zwar entzogen nicht alle westeuropäischen Verfassungen eine Reihe von sakrosankten Prinzipien der politischen Auseinandersetzung ganz und gar, aber fast alle schufen früher oder später eine Institution, welche nicht nur in der Bundesrepublik zum Gralshüter dieser Prinzipien werden sollte: das Verfassungsgericht, welches gerade keine Kopie des amerikanischen Obersten Gerichtshofes war, sondern eine antitotalitäre Erfindung des wohl bedeutendsten Rechtstheoretikers des zwanzigsten Jahrhunderts, des Österreichers Hans Kelsen. Kelsen verstand ein solches Gericht als Hüter nicht nur der Grundrechte der Bürger, sondern auch der Demokratie als ganzer, ohne dass die Mitglieder dieser Institution selber direkt demokratisch legitimiert – sprich: vom Volk gewählt – sein mussten.

Die europäische Integration stand nicht im Gegensatz zu diesem Demokratieverständnis, wie es das Klischee von souveränen demokratischen Nationalstaaten auf der einen Seite und jeder Rechenschaftspflicht enthobenen Brüsseler Bürokraten auf der anderen Seite will. Vielmehr war Europa eine Art supranationales Dach der antitotalitären europäischen Nachkriegsarchitektur: Auch Europa – in Form des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg wie auch des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg – verschrieb sich beispielsweise dem Grundrechtsschutz und schränkte den Handlungsspielraum der einzelnen Völker weiter ein.

Und dann war da noch der Kalte Krieg. Dieser schlug sich zwar gewöhnlich nicht in Verfassungsdokumenten direkt nieder, legitimierte aber weitere Grenzen für demokratische Willensbildung: Man denke nur an die Parteien- und Berufsverbote, welche sich primär gegen vermeintliche kommunistische Unterwanderer der freien Welt richteten. „Wehrhafte“ oder „streitbare“ Demokratie war keineswegs ein deutscher Sonderweg politischer Intoleranz, sondern fand sich beispielsweise auch in Form der „democrazia protetta“ in Italien, wo zudem alle Parteien einen informellen Pakt eingingen, wonach die (durchweg legale) Kommunistische Partei nie an die Regierung kommen dürfe. Kein Wunder, dass man von Italien und der Bonner Republik auch als „halbsouveränen“ Staaten sprach.

Es gab also schlicht kein goldenes Zeitalter des souveränen Volkswillens in Europa, wie es die Rede von der „Postdemokratie“ suggeriert. Die westeuropäischen Demokratien der Nachkriegszeit waren „eingeschränkte“ Demokratien, die auf Misstrauen und Furcht gründeten – und sich damit grundsätzlich von lange etablierten liberalen Volksherrschaften unterschieden.

Es kann denn auch nicht überraschen, dass sich Letztere nie recht mit dem Projekt der europäischen Integration anfreunden konnten: Großbritannien ist ein offensichtliches Beispiel dafür, aber man denke auch an Norwegen, das Land mit der ältesten geschriebenen demokratischen Verfassung Europas. Warum auch sollten Völker, welche sich selber vertrauen, supranationale Gerichte und Brüsseler Behörden als Demokratiehüter ermächtigen – sind nicht demokratische Bürger immer noch die besten Hüter der Demokratie? Das Credo dieser Länder war somit weiterhin: „Wir sind das Volk“ – das von Ländern wie Italien und der Bonner Republik jedoch eher: „Wir misstrauen dem Volk.“

Die These, es hätte ein goldenes Zeitalter der europäischen Sozialdemokratie gegeben, lässt sich schwer halten

Politische Theorie.
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© Karikatur: Klaus Stuttmann

Auch die These, es hätte ein goldenes Zeitalter der europäischen Sozialdemokratie gegeben, lässt sich schwer halten – mit Ausnahme Skandinaviens und wiederum Großbritanniens, wo die Labour-Partei ein umfangreiches wohlfahrtsstaatliches System errichtete. Zwar wurden in Kontinentaleuropa nach 1945 auch Sozialstaaten geschaffen, aber die sozialen Sicherungsnetze spannten nicht Linke, sondern Christdemokraten. Deren Verständnis des Wohlfahrtsstaates war paternalistisch und familienorientiert; man wollte dem Volk Sicherheit bieten – aber einmal mehr als eine Art Präventivmaßnahme gegen einen Rückfall in totalitäre Zeiten. Es kann denn auch nicht verwundern, dass der Totalitarismusbegriff – später vor allem unter Liberalen verbreitet – eigentlich eine Erfindung von Christdemokraten war.

Das spezifisch antitotalitäre Demokratieverständnis wurde in den siebziger Jahren von Spanien und Portugal übernommen, nachdem sie sich von den am längsten währenden Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts befreit hatten. 1989 verbreitete es sich in Mittel- und Osteuropa, wo beispielsweise Karlsruhe eifrig kopiert wurde. Und sogar Großbritannien wandelt heute nicht mehr ganz so einsam auf seinem europäischen Sonderweg: Das Land verschaffte 1998 der Europäischen Menschenrechtskonvention direkte Geltung im britischen Recht und errichtete gar einen Supreme Court (der allerdings einem Verfassungsgericht nicht ohne Weiteres vergleichbar ist).

Dies soll nicht heißen, dass seit den fünfziger Jahren alle Kontinentaleuropäer mit dem Segen der eingeschränkten Demokratie restlos glücklich gewesen wären. Man hat 1968 oft als politisch folgenlos abgetan oder gar, wie der große französische Soziologe Raymond Aron, als „Karneval“, weil sich nach all dem Lärm an den politischen Institutionen in Westeuropa kaum etwas änderte. Dies übersieht jedoch zweierlei: Zum einen richtete sich 68 direkt gegen das restriktive Demokratieverständnis europäischer Eliten nach 1945 – es war nicht nur verschwurbelter Marxismus oder Dritte-Welt-Romantik, welche die Studenten und ihre Theoretiker auf die Straßen trieb, sondern auch das Gefühl, man dürfe das Gemeinwesen nicht selbst ernannten antitotalitären Eliten und Demokratiehütern mit ihren Notstandsgesetzen überlassen.

Zum anderen änderte sich aber sehr wohl etwas nach 68: Nicht nur durfte man nun über den Rasen laufen, wie der Soziologe Niklas Luhmann – selbst keiner Idealisierung von 68 verdächtig – einmal bemerkte. Institutionen wie die Familie und die Universität waren nach wenigen Jahren nicht wiederzuerkennen. In solchen Institutionen war selbstverständlich nach 1945 auch Macht ausgeübt worden – und zwar oft selbstherrlich und paternalistisch, wenn nicht gar patriarchalisch. 68 schaffte diese Macht nicht ab, doch musste Machtausübung in langwierigen, oft aufreibenden gesellschaftlichen Prozessen neu autorisiert werden.

Und heute? Der Versuch, in der EU Haushaltsdisziplin zu konstitutionalisieren, scheint auf den ersten Blick wie eine Weiterentwicklung der Grundprinzipien der eingeschränkten Demokratie. „Schuldenbremsen“ in allen Verfassungen in der Eurozone, Überwachung nationaler Haushalte durch die Europäische Kommission, „Durchgriffsrechte“ für einen Währungskommissar: All dies lässt sich zwar nicht ohne Weiteres als demokratisch rechtfertigen, aber es stellt auch viel weniger einen Bruch in der europäischen Nachkriegsgeschichte dar, als Kritiker meinen. Wenn es gar das Ende der Demokratie bedeutet, wie Enzensberger insinuiert, dann leben wir schon lange nach dem Ende der Demokratie, dann war das gemeinsame Haus Europa immer schon ein stahlhartes Gehäuse von selbst auferlegter Disziplin.

Allerdings liegen die Dinge nicht so einfach. Denn die bisherigen, in den Augen der Bürger legitimen Einschränkungen der Demokratie ließen sich damit begründen, dass sie am Ende dem Schutz der Demokratie dienten. Etwas Ähnliches lässt sich vom Fiskalpakt wohl kaum sagen – wollte man sich nicht zu der Behauptung versteigen, Schuldenabbau ziele allein darauf, den demokratischen Handlungsspielraum zukünftiger Generationen zu sichern.

Zum anderen sind Gewaltenteilung und Grundrechte selbstverständlich auch politisch umstritten, aber sie sind doch um einiges demokratisch dingfester zu machen als Richtlinien wie die, dass die Gesamtverschuldung eines Landes 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht übersteigen darf. Hier handelt es sich um höchst kontroverse, von keiner geschichtlichen Erfahrung gedeckte und, Kritiker würden sagen: willkürliche Grenzziehungen, welche mit dem wirtschaftlichen Gesamterfolg eines Landes wenig zu tun haben. Ganz abgesehen davon, dass man solche Regeln mithilfe hochdotierter Zahlenartisten der kreativen Buchhaltung immer irgendwie umgehen kann.

Statt also zu folgern, dass die Europäer, lange an eingeschränkte Demokratien mit supranationaler Überwachung gewöhnt, sich einfach noch ein wenig mehr einschränken müssen, sollte man sich an die Logik von 1968 erinnern: Märkte sind Institutionen, die Macht ausüben – und diese Macht kann zwar nicht nach Gutdünken abgeschafft werden, aber sie muss neu autorisiert (und das heißt: reguliert) werden.

Das heutige Unbehagen gründet sich in einer Erfahrung von Kontrollverlust und Ausgeliefertsein, welches der von schikanierten Familienmitgliedern oder von Studenten in einem feudalen Universitätssystem gar nicht so unähnlich ist. Dies ist die eigentliche Kontinuität in der jüngsten europäischen Demokratieerfahrung. Es geht nicht darum, prominente politische Institutionen radikal umzugestalten, sondern darum, illegitime Macht unter Kontrolle zu bringen. Ohne Druck von unten wird dies kaum möglich sein.

Jan-Werner Müller

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