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"Integration kann nicht einfach dadurch gelingen, dass die Mehrzahl dieser Jugendlichen eine neue Schulform besucht"

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Leserkommentar: Wie kann Integration gelingen?

Tagesspiegel-Leser Dr. Klaus-D. Paatzsch über die Integration von muslimischen Einwanderer-Kindern aus Sicht eines Lehrers.

Vorweg: Ich bin nicht braun, schwarz, rot oder grün hinter den Ohren. Aber ich bin auch nicht blauäugig. Bemüht, möglichst kurz zu schreiben, auch verkürzt. Ich will einen Weg zeigen, um in der Integration einer zu großen Gruppe (10, 15, 20%...) von vor allem jugendlichen Migranten aus arabischen und türkischen Familien einen  notwendigen Schritt voranzukommen.

Ich weiß, wovon ich rede, aus mehrerlei Sicht.  Ich erlebe es seit 20 Jahren als Bürger. Seit ich in diese deutsche Gesellschaft unvorbereitet hineingestoßen wurde, aus der DDR nach Deutschland. Ich erfahre es seitdem als Lehrer in Berlin, in einer nicht nur so genannten Brennpunktregion. Ich musste und konnte viel lernen, einstecken und begreifen. Ich hatte nur einen Vorteil gegenüber Ausländern, denen es im Prinzip ebenso erging: Ich konnte deutsch. Aber ich wäre bis heute nicht angekommen, wenn ich diese neue Gesellschaft nicht grundsätzlich bejaht hätte. Wenn ich mich nicht mit ihr identifiziert (identifizieren im Sinne von „etwas/ein Anliegen zu seiner Sache machen“) hätte. Das ist für mich der Schlüssel zur Integration: Die  persönliche Identifizierung mit der neuen Gesellschaft, mit ihren Menschen, mit den Institutionen, mit den Grundwerten.

Integration kann nicht einfach dadurch gelingen, dass die Mehrzahl dieser Jugendlichen eine neue Schulform besucht, überhastet eingeführt und überlastet von Hauptschülern, von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, von lernunwilligen Sitzenbleibern, in der mit dreifachem Spagat gleichzeitig integrativer und inkludierter und individualisierter Unterricht geleistet werden soll.

Ich stütze meine Überlegungen vor allem auf meine Arbeit als Klassenlehrer in dieser Zeit, in der ich bis heute fünf Klassen geführt habe, also ca. 125 Schüler -davon ca. 100 mit migrantischem Hintergrund-, die ich im Unterricht, in den Pausen, auf Exkursionen, auf  Klassenfahrten kennen gelernt habe. Gleichzeitig habe ich  aus DDR-Zeiten beibehalten, am Anfang der 7. Klasse Hausbesuche bei allen Schülern und ihren Eltern zu machen, um Verständnis für meine pädagogischen Anliegen zu werben und um die häuslichen Lernbedingungen in Augenschein zu nehmen.

Was hindert nach meiner Auffassung noch zu viele junge Araber und Türken daran, sich mit der deutschen Gesellschaft zu identifizieren?

Um es gleich unvermittelt zu sagen: Es sind für mich nicht die Gene (Wer kann da schon Antworten geben?), die das schlechte Abschneiden in der Schule und das Nichtankommen in der Ausbildungs-, Arbeits- und Lebenswelt bewirken. Es sind nicht ihre Eltern als Individuen, die ich, gerade zu Hause, als sehr gastfreundliche und liebenswerte Menschen erlebt habe, es sind die Umstände, aus denen sie kommen und in denen sie hier leben.

Es sind die sozial-kulturellen Umstände, stark beeinflusst  von Ethnie, Tradition, Religion und Familie, die die Identifikation mit unserer modernen Gesellschaft erschweren. Ein bezeichnendes Beispiel: Wer -daraufhin angesprochen- sagt, dass ein arabisches Mädchen nur einen deutschen Mann heiraten könne, wenn dieser zum Islam übertrete, der verbaut sich den Weg in unsere Gesellschaft und überbetont die Rolle der Religion.

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1. Sie werden daran gehindert, weil sie noch zu stark traditionell und familiär an  ihrer alten Gesellschaft hängen.

Diese alte Gesellschaft ist bis heute noch teils  geprägt von bäuerlichen, mittelalterlichen Verhältnissen und damit mit stark religiös und gewaltbereitem Potenzial. Damit ist beispielsweise die häufig hohe Zahl von Nachkommen erklärlich, die den Eltern einen sicheren Lebensabend garantieren soll, dem Vater einen eigenen großen Einflussbereich und der Familie zusätzliche Einkommen durch Eheverträge bei der Heirat der Töchter verschafft. Dass damit die Frauen, deren Rollenbild in diesen  Familien stark von Mutter und Hausfrau und Erzieherin geprägt ist, in unserer bildungsbetonten und fachlich spezialisierten Welt total überfordert sind, liegt auf der Hand.                                 

Oder:  Die Familien kommen aus Teilen der Welt, in denen Gewalt und Krieg noch eine große, häufig auch traumatisierende Rolle spielen (Probleme der Kurden, Iraker, Palästinenser, Libanesen). Demzufolge gehört bei vielen Menschen, besonders bei den männlichen,  Gewaltausübung zum normalen Leben, um Rechte und Vorstellungen individuell durchzusetzen.

2. Sie werden daran gehindert, weil sie gegenüber der deutschen Gesellschaft voreingenommen sind.

Viele aus diesen Gruppen halten den deutschen Staat und die deutsche Gesellschaft für schwach und verdorben. In vielen Gesprächen, wenn es z.B.  im Fach Wirtschaft um Arbeitslosigkeit und Schwarzarbeit ging, bekundeten die Schüler, dass die Behörden doch zu schwach seien, diese für sie gängige Praxis zu unterbinden. Die deutschen Mädchen seien verdorben, weil sie sich leicht bekleideten oder schon vor der Ehe sexuelle Kontakte hätten, die Jungen seien schwach, weil sie sich nicht, wie es männlich ist, mit den Fäusten oder Messern  wehrten. Die Deutschen nähmen es mit der Religion nicht mehr ernst, sie selbst würden beten und fasten und damit ein gottgefälliges Leben führen, so hören sie es in den Koranschulen und aus dem Elternhaus.

Sie haben noch nicht verstanden, dass der Staat nicht allmächtig ist, nicht, dass die Befreiung der Frau und die Befreiung vom Primat der Religion das Ende eines jahrhundertelangen Prozesses sind. Sie bleiben in ihrer eingeschränkten Sicht und bleiben damit lieber unter sich, in einer bewussten oder unbewussten inneren Emigration - inmitten einer verdorbenen Gesellschaft.

3. Sie werden daran gehindert, weil sie zu wenig  und zu Wenige von der deutschen Gesellschaft kennen.

Es ist nicht schwer feststellbar, dass die Medien,  die kulturellen Einrichtungen  und die geographischen Schönheiten Deutschlands  diesen Jugendlichen weithin unbekannt sind, außer Privatsendern, Kino  und Berlin. Sie  sehen arabische/türkische Sendungen, kennen die Schlagzeilen der entsprechenden Printmedien und bleiben in ihrem Kiez. Ihre Nachbarn sind auch Ausländer, in der Schule sind die Deutschen schon die Ausnahme und werden  gemobbt. Sie können nichts über die Berufe ihrer Eltern sagen, weil diese meist arbeitslos sind, sie wissen nicht, wofür sie sich beruflich entscheiden sollen, weil ihre vielen Verwandten es auch nicht wissen. 

Die Mädchen bereiten sich darauf vor, einmal zu heiraten und Kinder zu bekommen, die Jungen sind der Auffassung, einer Karriere wie der von Fußballprofi Mesut Özil stände nichts im Wege oder allenfalls spricht sie der fast aussichtslose Berufswunsch eines Kfz-Mechatronikers an.  Und ansonsten erst mal nach der 10. Klasse in irgendeiner  von den zahlreichen Berliner Schullaufbahnen parken, aber sich noch nicht ausbilden lassen oder arbeiten. Und das, obwohl sich in der Schule seit einigen Jahren Berufsberater und Leute von der Vertieften Berufsorientierung die Klinke in die Hand geben.

4. Sie werden daran gehindert, weil die deutsche Gesellschaft ihnen zu spärlich spezifische Angebote macht und ihnen so nicht den erhofften sozialen Aufstieg ermöglicht.

Impetus aller Ansätze, deutscher wie migrantischer, müsste einerseits ein hohes Verständnis für die persönliche und soziale Situation dieser Menschen sein, aber andererseits auch eine unmissverständliche Begleitung in unsere Gesellschaft.

Einige Lösungsansätze findet man bereits in den bisherigen Darlegungen, wenn man sie daraufhin abklopft, einige andere will ich noch abschließend benennen, fixiert auf die Ausbildungs- und Berufswelt.

Sowohl Wirtschaft als auch Verwaltung müssen diesen Jugendlichen eine Perspektive geben und konkrete Angebote machen, auch wenn kein Mittlerer Schulabschluss (dabei werden doch viele Potentiale gar nicht erfasst) erreicht wurde. Gefragt sind Phantasie und  der Mut, die eigene Realität auch an die der Heranwachsenden anzupassen

Da  wäre die noch häufig ungenutzte Mehrsprachigkeit, die, wenn vervollkommnet, in vielen Bereichen eine Bereicherung wäre, als  Taxifahrer, im Krankenhaus, als Fachfrau für Touristik, bei Behörden und Versicherungen.

So genannte Existenzgründungen, kleine selbstständige Unternehmen entsprächen den Erfahrungen und der Flexibilität  vieler dieser Menschen, wenn sie dafür die institutionelle Unterstützung bekämen.

Viele Schüler haben aufgrund ihrer Ethnie ein besonderes Maß an Emotionalität und Begeisterungsfähigkeit, die gerade in künstlerischen Berufen gebraucht werden. 

Andere wiederum sind geschickte Handarbeiter, deren Fertigkeiten die Gesellschaft nicht brach liegen lassen sollte…

Ausblick:  Es müssen  schnell Pfade gefunden werden, um diese jungen Bürger auf dem Weg der Identifizierung mit Deutschland zu begleiten; mit einem freundlichen Händedruck  und ausgerüstet mit festem Schuhwerk, eine Aufgabe für die Aufnahme- und die Zuwanderungsgesellschaft. Laufen lernen müssen sie allein, indem sie sich auf die deutsche  Gesellschaft einlassen, sie zu ihrer Sache machen. 

Dr. Klaus-D. Paatzsch

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