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Magnus Gäfgen (li.) und Wolfgang Daschner. Der Polizei-Vizepräsident ließ Entführer Gäfgen Folter androhen und wurde dafür verurteilt.

© dpa

Kontrapunkt: Magnus Gäfgen ist kein Folteropfer

Ein Kindsmörder wird entschädigt. Dabei, so schreibt Malte Lehming in seinem Kontrapunkt, kann die Drohung mit einer verwerflichen Tat zwar rechtswidrig, aber auch moralisch geboten sein.

Es dürfte unstrittig sein, dass der massive Einsatz nuklearer Waffen gegen ein anderes Land und dessen Bewohner zutiefst unmoralisch und unter keinen Bedingungen zu rechtfertigen wäre. Doch genau damit haben sich Ost und West zu Zeiten des Kommunismus bedroht. Zwar sprach man bei der Nato von „Abschreckung“, „Eskalationsdominanz“ und „flexible response“, aber man ließ nie Zweifel daran, zur Not auch zum Äußersten bereit gewesen zu sein. Das hieß: zur millionenfachen Tötung von Zivilisten.

Zum Glück endete die Sache gut. Die Abschreckung war erfolgreich, der Osten gab ohne Krieg auf, der Westen triumphierte.

Folgt man allerdings der Logik vieler deutscher Kommentatoren und Juristen im Fall des Kindsmörders Magnus Gäfgen, wäre der europäische Kontinent heute vielleicht rot, die Demokratie abgeschafft, die Freiheit ein Märchen aus alter Zeit. Die jüngste Entscheidung des Frankfurter Landgerichts, Gäfgen eine Entschädigung von 3000 Euro plus Zinsen zu zahlen, sei ein „Sieg für den Rechtsstaat“, titelt eine Tageszeitung, eine andere sinniert über „Das Recht des Bösen“.

Die „Deutsche Welle“ schließlich sprach über das Thema mit dem Arzt und Juristen Rainer Erlinger. Der sagt: „Die Grundüberlegung ist die: Ist es zulässig, dass unser Staat foltert oder die Folter androht? Das ist ganz klar zu beantworten mit nein. Das können wir auf gar keinen Fall zulassen. Unser Staat darf das nicht. Die zweite Frage ist: Wenn der Staat es dennoch tut, hat dann derjenige, dessen Würde durch diese Folter oder Folterdrohung verletzt wird, einen grundsätzlichen Anspruch darauf, dass er dafür entschädigt wird? Und da muss die zweite Antwort lauten: ja. Sonst würde man in diesem zweiten Schritt vor den Gerichten sagen: ,Du bist zwar verletzt worden, aber das macht nichts, weil in dem Fall die Umstände so besonders sind, dass es zulässig war.’ Damit würden wir die Folter durch die Hintertür doch zulassen.“

In aller Klarheit: Gäfgen, der im September 2002 den damals elfjährigen Jakob von Metzler in seine Wohnung lockte und eigenhändig erwürgte, bevor er ihn in einen blauen Müllsack steckte, in einen kleinen Weiher nordöstlich von Frankfurt (Main) warf, von dessen Eltern das Lösegeld erbeutete und mit einem Teil davon einen Urlaub buchte, ist kein Folteropfer. Wer das Gegenteil behauptet, lügt. Kein einziges Haar wurde Gäfgen gekrümmt, kein Schmerzlein zugefügt.

Dem Verhafteten und dringend Tatverdächtigen wurde lediglich am Abend des dritten Tages nach der Entführung des Kindes – die Polizei ging davon aus, dass Jakob noch lebte, aber nicht länger als vier Tage ohne Flüssigkeit überleben könne – vom damaligen Polizeivizepräsidenten Wolfgang Daschner und Kriminalhauptkommissar Ortwin Ennigkeit Gewalt angedroht, damit Gäfgen ihnen den Aufenthaltsort des Kindes nennt. Für diese Drohung wurden die beiden hessischen Beamten später verurteilt. Zur Begründung heißt es seitdem oft, das Folterverbot gelte absolut und dürfe nicht aufgeweicht werden.

Das aber ist erstens eine Verhöhnung aller wirklichen Folteropfer dieser Welt. Man frage einmal in den Kerkern von Syrien oder den Verliesen im Iran, ob die an Haut, Knochen und Mark gepeinigten Menschen dort nicht durchaus einen gravierenden Unterschied sehen zwischen der bloßen Androhung von Folter und der Folter selbst. Wer statt dessen beides unter dem Gesichtspunkt der Moral in einen Topf wirft und gleichermaßen verurteilt, wie es in der deutschen Kommentatorenlandschaft üblich ist, hätte Gäfgen für sein Verbrechen auch nur mit lebenslanger Haft drohen können, statt ihn tatsächlich hinter Gitter zu sperren.

Denn zweitens gibt es, wie die Historie der atomaren Abschreckung belegt, mitunter sogar einen kategorischen Unterschied zwischen der Drohung mit einer verwerflichen Tat und eben dieser Tat. Die Frankfurter Polizisten wie die obersten Nato-Generäle drohten ja nur, um die Tat nicht ausführen zu müssen. Und sie hatten sehr gute Gründe für die Annahme, dass die Drohung ihren Zweck erfüllen würde. Mag sein, dass Gäfgens Menschenwürde verletzt wurde. Aber sie wurde kaum stärker verletzt als die der Menschen diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs zu Zeiten der „Mutual Assured Destruction“.

Insofern reduziert sich das Dilemma in dem einen Fall auf die Frage: Darf ein Militärbündnis aus Selbsterhaltungsinteresse die Bewohner eines gegnerischen Militärbündnisses in nukleare Geiselhaft nehmen? Und im Fall Gäfgen: Dürfen Polizeibeamte, um das Leben eines Kindes zu retten, dem Kindesentführer vorübergehend etwas Angst einjagen? Wer die erste Frage bejaht, weil die Drohung half, den Kommunismus zu besiegen, sollte ein mögliches Nein zur zweiten Frage noch einmal überdenken.

Recht und Moral sind nicht deckungsgleich. Daschner und Ennigkeit handelten vorsätzlich und wussten wohl um die Rechtswidrigkeit ihres Tuns. Doch sie befanden sich in einer Situation, aus der es ohne Sünde keinen Ausweg gab. Anschließend übernahmen sie die Verantwortung für ihre Entscheidung. Das zeugt von innerer Größe und einem funktionierenden moralischen Kompass. Nur ein totalitäres Verständnis des Rechts wird ihnen jenen Respekt verwehren, den sie verdient haben.

Gäfgen aber sei mit einem Stein um den Hals in den Brunnen des Vergessens gestürzt.

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