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Das Wort "Scheitern" kommt aus der Seefahrt. Auch der Kapitän der Costa Concordia ist gescheitert.

© AFP

Jahresende: Erzählen Sie allen, woran Sie gescheitert sind

Wenn etwas nicht gelingt oder nicht abgeschlossen wird, empfinden wir das als Schmach, die es zu verstecken gilt. Dabei beginnen Missgeschicke mit einem Abenteuer und enden mit einer Überraschung. Ein Plädoyer für das Scheitern.

Zwischen den Jahren. Was für eine ungenaue Zeitangabe. Und doch beschreibt sie treffend jenes zeitliche Niemandsland, in dem wir uns gerade befinden. Auf der Straße herrscht die Ruhe vor dem Böllersturm. Was tun in dieser unverhofften Stille? Geburtstage in den neuen Kalender übertragen, Naturfilme anschauen? Alle Jahre wieder lese ich auf der Startseite meines Mailanbieters, es sei nun an der Zeit, gute Vorsätze fürs neue Jahr zu fassen. Ich möchte Ihnen etwas anderes vorschlagen. Wäre es nicht interessanter, sich mit den Vorsätzen des vergangenen Jahres zu beschäftigen? Was ist aus ihnen geworden? Haben Sie erreicht, was Sie wollten? Schön. Dann räkeln Sie sich auf dem Sofa und schauen Sie weiter Naturfilme. Wenn aber aus Ihren Vorhaben so gar nichts geworden ist, wenn Sie etwas versiebt, verbockt, vergeigt haben, wenn Sie, mit anderen Worten, gescheitert sind, dann sollten Sie eine Flasche aufmachen, Freunde einladen und erzählen.

Der Autor veranstaltet mit der Gruppe Kulturmassnahmen die „Show des Scheiterns“, eine Vortragsreihe, bei der Menschen vor Publikum von gescheiterten Projekten berichten. Die nächste Show soll im Frühjahr stattfinden. Ob das klappt, erfahren Sie auf kulturmassnahmen.de.
Der Autor veranstaltet mit der Gruppe Kulturmassnahmen die „Show des Scheiterns“, eine Vortragsreihe, bei der Menschen vor Publikum von gescheiterten Projekten berichten. Die nächste Show soll im Frühjahr stattfinden. Ob das klappt, erfahren Sie auf kulturmassnahmen.de.

© Bernward Reul

Erzählen? Vom eigenen Scheitern? Nach einer Niederlage möchte man sich doch lieber verkriechen und die Wunden lecken. Selbst Tiere tun das: Die Katze, die galant über ein Bücherregal stolziert und dann mit einem Fehltritt herunterplumpst. Entweder schleckt sie sich, als sei nichts geschehen, oder sie verzieht sich sofort unter einen Sessel. Keine Frage, Scheitern ist eine unangenehme Erfahrung. Wenn aber der erste Schock überwunden ist, wird man feststellen, dass man beim Scheitern etwas erlebt hat, wovon es sich lohnt zu berichten. Geschichten vom Erfolg sind langweilig, Scheitergeschichten hingegen können aufregend, anrührend, erhellend sein. Sicher, es gibt großes und tragisches Scheitern, das einen sprachlos macht. Aber man kann auch an kleinen Dingen groß scheitern. Von dieser Sorte Scheitern soll hier die Rede sein. Zu einem meiner Projekte des vergangenen Jahres gehörte zum Beispiel das Anschließen unserer Küchenspüle. Ein Vorhaben, mit dem ich auf halber Strecke gescheitert bin.

Ich sah es vor mir: Die fertige Küche, ein Bier in der Hand, die Liebste im Arm

Alles begann mit unserem Umzug in eine neue Wohnung. Ein schöner Altbau, geräumig und hell, bis auf den als „Berliner Zimmer“ bekannten Durchgangsraum, der schon zu Schinkels Zeiten (auf ihn geht wohl der Grundriss zurück) zu Unmut bei den Mietern geführt haben soll. Was fängt man mit diesem dunklen Schlauch an? Manche verlegen die Küche ins Berliner Zimmer und die Kinder in die ehemalige Küche. Das hat auch uns überzeugt. Nur einen Haken hatte die Sache. Um das Berliner Zimmer als Küche zu nutzen, mussten wir das Zu- und Abwasser verlegen oder vielmehr verlegen lassen. Hätte ich mich selbst betätigt, wäre es sofort zu einem schweren Wasserschaden gekommen. Dabei interessiere ich mich durchaus für Handwerkliches. Mir gefallen die Werkzeuge, ich mag die Begrifflichkeiten, aber im entscheidenden Moment fehlt mir das Vermögen, die Dinge sauber hinzubekommen. Nachdem ich dem bestellten Handwerker bewundernd zusehen durfte, wie er in nicht mal einer Stunde das Wasser vom Bad in die neue Küche verlegen konnte, überkam mich ein seltsamer Ehrgeiz. Ich wollte nicht in einer Wohnung leben, in der ich nicht auch Hand angelegt hatte. Ich wollte beweisen, dass ich wenigstens imstande wäre, die Spüle, die Waschmaschine und den Geschirrspüler alleine anzuschließen. Kurz: Ich wollte mich aus meiner Unmündigkeit als Handwerker befreien. Ein kühner Plan.

Der Begriff Scheitern leitet sich vom Holzscheit ab und stammt in seiner Verwendung wohl aus der Seefahrt. Ein Abenteurer bricht auf, um neue Fanggründe oder Länder zu entdecken, doch dann kommt sein Schiff vom Weg ab und zerbirst an einem Riff zu Scheiten. Hinter jedem Scheitern steckt also zunächst ein kühner Plan, ein Wagnis. Umso größer ist dann die Schmach, wenn man dasitzt, auf dem Riff oder im Bauch eines Seeungeheuers, und seinen Traum endgültig abschreiben muss. Mein Traum war nun diese selbst angeschlossene Spüle. Ich sah mich nach getaner Arbeit, ein Bier in der Hand und meine Liebste im Arm vor dem fertigen Prachtstück. Stattdessen hing ich mehrere Stunden eingezwängt zwischen Geschirrspüler und Waschmaschine, bewaffnet mit einer Zange. Die Schläuche waren mein Seeungeheuer. Vor Wut, es nicht besiegen zu können, schlug ich irgendwann auf die Rückwand des Küchenschranks ein. Die dünne Presspappe zerbarst, wenn nicht zu Scheiten, dann doch zu Bröseln.

Ich sah ein, dass ein Anruf beim Schwiegervater unumgänglich war

Am Ende bekam ich zwar alles angeschlossen, allerdings leckten die Leitungen. Bis heute hilft ein kleiner Plastikeimer, der unter den undichten Schläuchen steht. Ein weitaus größeres Provisorium bleibt die Lücke zwischen Arbeitsplatte und Wand. Denn wie ich bald feststellen musste, hatte der Monteur die Absperrhähne so angebracht, dass weder der Geschirrspüler noch die Waschmaschine bis an die Mauer geschoben werden konnten. Alles Rücken und Rütteln half nicht, es blieb eine Lücke von 13 Zentimetern. In meiner Ratlosigkeit musste ich mich an meinen handwerklich begabten Schwiegervater wenden. Mit wenigen Blicken durchschaute er das Problem. Man könnte doch aus dem Verschnitt der Arbeitsplatte einen schmalen Streifen leimen und hinter der Spüle einpassen. Leimen, einpassen, mir wurde heiß und kalt. Das schien auch mein Schwiegervater zu bemerken. Ich bräuchte ihm bloß eine Zeichnung mit den Maßen anfertigen, er würde das mit dem Leimen übernehmen. Na gut, jeder große Entdecker hat seine Lastenträger, warum sollte ich keine Hilfe annehmen?

Ich machte mich ans Ausmessen und konnte auf der Zeichnung vermerken, dass an der linken Ecke, dort wo das Brett auf den Türrahmen stoßen sollte, ein kleines Stück auszusparen wäre. „Ausklinken“ nennt man das. Ein schönes, ein professionelles Wort, das ich fortan zu jeder Gelegenheit benutzen würde. Leider muss mir bei der Zeichnung ein Fehler unterlaufen sein. Denn als ich nach ein paar Tagen mit dem fertigen Brett vor der Spüle stand, war genau die falsche Seite des Bretts ausgeklinkt. Es war wohl dieser Moment gewesen, in dem ich die Lust verlor. Ich verschob die Sache, stellte das geleimte Brett hochkant hinter die Tür. Manchmal fiel es mir beim Hereinkommen entgegen, so, als wollte es auf sich aufmerksam machen. Ein Hilferuf, den ich ignorierte.

Der Begriff Versanden stammt womöglich ebenfalls aus der Seefahrt und beschreibt einen beim Scheitern häufig anzutreffenden Zustand. Das Schiff ist auf Grund gelaufen, man ignoriert aber den Stillstand und ahnt bereits, dass es ohne Anstrengung für immer so bleiben wird. Von meinem Traum, ein guter Handwerker zu werden, war ich nun weiter entfernt als je zuvor. Um genau zu sein, lagen dazwischen genau 13 Zentimeter.

Mit dieser Lücke tat sich auch ein Graben auf. Anfangs hatte ich noch versucht, die beim Abwasch heruntergefallenen Spülschwämme, Kartoffelschäler und Käsereiben herauszufischen, musste aber feststellen, dass der Abstand zu eng und eine Bergung unmöglich war. Eines Tages, spätestens mit unserem Auszug, tröstete ich mich, würden sie wieder auftauchen. Oder die Lücke würde durch herunterfallende Dinge selbst versanden und sich von alleine schließen. Dass ich noch einmal Hand anlegen würde, davon hatte ich mich innerlich längst verabschiedet.

Was meine Küche mit der A 106 und der A 102 zu tun hat

So lernte ich, mit der Lücke zu leben. Ich redete mir sogar ein, dass sie ausgezeichnet zu einem „Berliner Zimmer“ passt. Immerhin kann diese Stadt auf eine lange Tradition von gescheiterten Bauvorhaben zurückblicken. Doch darf man eine halb fertige Spüle mit dem geplanten Riesenrad am Zoo, mit dem Sockel des Karl-Liebknecht-Denkmals am Potsdamer Platz, mit einem Großflughafen vergleichen? Klar. Denn ganz gleich, wie groß Projekte sind, im Verlauf ihres Scheiterns ähneln sie sich alle. Zu einem meiner liebsten missglückten Bauvorhaben in Berlin gehört das Autobahnkreuz Oranienplatz. Mitte der 60er Jahre sah der Berliner Flächennutzungsplan vor, mitten in Kreuzberg zwei Autobahnen aufeinandertreffen zu lassen. Die A 106 von Schöneberg nach Köpenick und die A 102 aus dem Prenzlauer Berg nach Tempelhof. Man mag von Autobahnen halten, was man will, mir gefällt an dem Plan, dass es sich um eine absolute Schnapsidee handelt. Kurz nach dem Mauerbau zwei Autobahnen von West nach Ost zu planen, war mindestens so unrealistisch wie mein Wunsch, alleine eine Spüle anzuschließen. Beide Projekte hatten ähnliche Ursachen: Ich wollte mich nicht mit dem Selbstbild eines schlechten Handwerkers abfinden, die Stadtplaner West-Berlins nicht mit dem einer eingekesselten Stadt. So, wie ich mit meinen Schläuchen zu kämpfen hatte, stieß auch das Autobahnprojekt bald auf erste Hürden: Hausbesetzer, die den Abriss der entmieteten Altbauten rund um den Oranienplatz erschwerten, und letztendlich die Wiedervereinigung, die auf sich warten ließ. Am Ende blieb, wie bei meiner Spüle, eine Lücke übrig.

Für einige Jahre hatte ich mein Büro am Kottbusser Tor, gleich hinter dem Zentrum Kreuzberg, jenem breiten Betonriegel, der wie ein Staudamm eine Seite des Platzes abschirmt. Nicht ohne Grund, denn in seinem Rücken hätte ja die Autobahn vorbeirauschen sollen. Es kam anders, die angrenzenden Gebäude wurden nicht abgerissen und so entstand, wie in keinem Nutzungsplan vorgesehen, ein schmaler Durchgang, eine Gasse ohne Namen. Von meinem Fenster aus konnte ich beobachten, wie sich diese Lücke großer Beliebtheit erfreute. Nicht nur als Durchgang, sondern auch als ungestörter Ort für Menschen, die austreten mussten, für solche, die wegtreten wollten, für Liebespaare, die dankbar die abgestellten Möbel annahmen, und nicht zuletzt für Filmteams, die hier Verfolgungsjagden und Hip-Hop-Videos drehten. Die Wände waren übersäht mit allerlei Streetart, Graffitis, bemalten Aufklebern, kleinen Reliefs aus geschnitztem Bauschaum, immer wieder von Touristen fotografiert. Ich gebe zu, es ist kein schöner Ort. Doch oft habe ich mich gefragt, wo all diese Dinge sonst hätten stattfinden können, gäbe es nicht diese Lücke.

Der Künstler betrachtete das Brett und sagte: "Strong work."

Eine Lücke ist der Wortherkunft nach etwas, das geschlossen werden soll. Ein Übergangszustand. Wir sind umgeben von Baulücken, Finanzierungslücken, Zahnlücken. In der Literatur spricht man von der Bedeutung der Lücke im Text, die der Leser mit seiner Fantasie füllen kann. Warum können nicht andere Lücken so bleiben, wie sie sind? Lücken in der Biografie zum Beispiel, im eigenen Werdegang?

Im Zusammenhang mit dem Scheitern taucht immer wieder das Argument auf, hierzulande habe man ein verkrampftes Verhältnis zum Misserfolg. Ganz anders in den USA, wo man eine Geschäftspleite in den Lebenslauf schreibt. Das mag so sein. Aber es geschieht nur, wenn nach der Pleite wieder ein Erfolg kommt. Über das Scheitern darf nur reden, wer daraus gelernt hat. Buchtitel wie „Erfolgreich Scheitern“ treiben diesen Wunsch nach Effizienz auf die Spitze. In unseren durchrationalisierten Lebensläufen wird nun auch noch das Scheitern effektiviert. Das soll nicht sein. Das darf nicht sein. Scheitern gehört zum Leben als das, was es ist: eine Niederlage. Nicht jede Lücke, die das Scheitern hinterlässt, muss geschlossen werden. Und manchmal kann aus ihnen sogar Schönes entstehen. So geschehen mit der Lücke hinter meiner Spüle.

Vor einigen Wochen hatten wir einen befreundeten Künstler zu Gast. Er bereitete eine Ausstellung vor. Interessiert an Fragen der Architektur, des Designs und der Alltagskultur, fiel ihm sofort die geleimte Holzleiste hinter der Tür auf. Er fragte uns, ob er das Stück für seine Ausstellung haben dürfte. Keine leichte Entscheidung. Mit der Preisgabe wäre mein Scheitern endgültig besiegelt gewesen. Andererseits musste ich anerkennen, dass er recht hatte. Die geleimte Leiste mit ihrer ausgeklinkten Ecke strahlte eine unerfüllte Bestimmung aus. Warum sollte ich sie nicht aus ihrem Schicksal des Wartens erlösen? Ich stimmte zu und wurde belohnt. Als ich das Holz in der Galerie zum ersten Mal sah, war ich begeistert. Schräg in den Raum gekippt und ausbalanciert mit einer dünnen, roten Schnur war es, als wollte es zum Tanzen abheben. Auch andere Besucher waren angetan. Ein bekannter Sammler blieb vor meiner Küchenleiste stehen und meinte: „Strong work.“ Wieder zu Hause, schloss ich mit meiner Lücke Frieden. Was solche Schönheit hervorbringt, darf bleiben.

Der Autor veranstaltet mit der Gruppe Kulturmassnahmen die „Show des Scheiterns“, eine Vortragsreihe, bei der Menschen vor Publikum von gescheiterten Projekten berichten. Die nächste Show soll im Frühjahr stattfinden. Ob das klappt, erfahren Sie auf kulturmassnahmen.de.

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