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© Karikatur: Stuttmann

Identität: Wo bleibt der deutsche Traum?

Die Deutschen brauchen die ganze Energie für sich selbst. Im Kampf mit der eigenen Identität: Warum dieses Land es sich und den Einwanderern so schwer macht.

Jede Einwanderungsgesellschaft braucht eine spezielle Zukunftsvision, die über ihre Selbstbeschreibung hinausgeht, die mehr sein muss als die Bewahrung bestehender Strukturen. Diese Vision kann als eine Gefährdung des eigenen Selbstverständnisses, aber auch als Chance wahrgenommen werden, dieses Eigene zu erweitern.

Zunächst aber braucht die Gesellschaft einen Konsens über dieses Eigene. Dass viele Menschen von außen gekommen sind, um sich zum Beispiel in Deutschland niederzulassen, deutet ja erst einmal auf einen Reiz hin, den dieses Land ausstrahlt. Erschöpft sich dieser Reiz in dessen ökonomischem Erfolg? Wie stark ist heute die kulturelle Anziehungskraft Deutschlands, wie wird sie nach außen vermittelt? Viele Schwierigkeiten, die Deutschland heute mit der Migration und ihren Folgen hat, sind hausgemacht. Sie finden ihre Ursachen in einem deutschen Dilemma, das historische Ursachen hat, die heute kaum thematisiert werden. Deutsche Geschichte kann nicht einfach beiseitegeschoben werden, wenn es darum geht, Deutschland zu öffnen, für Menschen, die diese Geschichte nicht teilen.

Nach dem Fall der Mauer konzentrierte sich Deutschland auf die Einheit von Ost und West. Die Lebenswirklichkeit von Nichtdeutschen, die auf deutschem Boden Wurzeln geschlagen hatten, trat in den Hintergrund und wurde jahrelang im Osten ganz anders wahrgenommen als im Westen. Über die deutsche Einheit diskutierten allein Deutsche miteinander. Stimmen von Migranten wurden nur im Zusammenhang mit fremdenfeindlichen und rassistischen Übergriffen wahrgenommen. So konstruierte sich die Wiedervereinigung als ein nationaler Prozess, bei dem es vor allem um die Rekonstruktion nationaler Identität ging. Das Zusammenwachsen ist jedoch ein widersprüchlicher Prozess, denn die Deutschen bilden keine homogene Erinnerungsgemeinschaft. Sie leben in der Erinnerungsvielfalt.

Nie gab es in Deutschland mehr Freiheit als heute, nie gab es mehr Wohlstand. Und zugleich gab es, mit Ausnahme der frühen 1920er Jahre, den Jahren der Inflation und der Not, nie so viel Angst wie heute. Angst vor Überfremdung, Angst vor den Folgen der Globalisierung, Angst vor dem Islam. Wie ist diese Diskrepanz zu erklären? Brauchen die Deutschen vielleicht Angstzustände, um sich selbst wahrzunehmen? Dass vier Millionen Muslime binnen weniger Generationen das Achtzigmillionenvolk der Deutschen zur Minderheit im eigenen Land werden lassen und dass sie allesamt nichts anderes im Schilde führen, als den demokratischen Rechtsstaat abzuschaffen um die Scharia einzuführen, eine solche Mär scheint nicht wenige im Land zu beschäftigen. Ist das alles rational noch zu begreifen?

Von außen erscheint Deutschland als wirtschaftlicher Koloss. Doch im Inneren ist der Riese zart besaitet. Himmelhoch jauchzend und tief betrübt ist das deutsche Gemüt, ein manisch-depressives wie emsiges Volk, das auch sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung keineswegs mit sich selbst im Reinen ist. Die Deutschen werden nervös, wenn sie sich mit anderen beschäftigen müssen, denn sie brauchen die ganze Energie für sich selbst. Das deutsche Selbstgespräch schottet sich nach wie vor ab, wenn mit anderen kommuniziert wird. Es ist, als hätte man einen abgeschlossenen Raum für die Erinnerungen eingerichtet, um sie nicht in Berührung kommen zu lassen mit den vielfältigen Stimmen von draußen. So haben wir es in den Integrationsdebatten mit einem seltsam geschichtslosen Deutschland zu tun. Als hätte dieses Land keinerlei Erfahrung mit Migration, mit Ein- und Auswanderung, mit kulturellen Debatten um die deutsche Identität. Wenn es um die Zukunft geht, findet immer ein Gespräch zwischen Geschichte und Gegenwart statt. Dieses Gespräch scheint blockiert zu sein, wenn es um die Zukunft des Einwanderungslandes Deutschland geht. Wie kann ein Land als Einwanderungsland funktionieren, wenn es dies nur widerstrebend geworden ist?

Es kann nicht überraschen, dass jedes Problem, das im Zusammenhang mit der Migration auftaucht, hierzulande sofort zu einem Gefühl des Scheiterns beiträgt. Die Integration sei gescheitert, hört man landauf, landab, als hätte man in diesem Lande eine jahrzehntelange Integrationspolitik betrieben. Es ist ein gefühltes Scheitern, das tatsächlich mit einem Grundgefühl zu tun hat. Dieses Grundgefühl wurzelt in einem vorbelasteten Verhältnis zu sich selbst und zum Fremden. Man möchte weltoffen sein in diesem Land, jedoch nicht, weil man eine weltoffene Grundhaltung hat. Die Weltoffenheit wird als Schutz vor der eigenen Geschichte verstanden. Vor der eigenen Geschichte aber kann man sich nicht schützen. Die Geschichtsaufarbeitung in Deutschland kann nicht zu einer Entlastung führen, lediglich dazu beitragen, das Eigene besser einzuschätzen. Die sogenannte Vergangenheitsbewältigung hat das Verhältnis der Deutschen zur eigenen Identität und zu Fremden, die nicht als Touristen ins Land kommen, sondern um sich niederzulassen, um ihre Kinder hier auf die Welt zu bringen, nicht grundlegend verändert. Der Fremde bleibt in Deutschland fremd, solange er nicht seiner eigenen Herkunft abschwört. Das ist die Regel. Die Willkommenskultur, von der in letzter Zeit immer wieder die Rede ist, hat keine emotionale Basis. Es ist ein Wort, manchmal vielleicht eine Geste, aber es ist kein selbstverständlicher Teil der Kultur. Mit Appellen lässt sich eine solche Kultur nicht aufbauen.

In Deutschland leben inzwischen Millionen von Menschen, die in diesem Land geboren und aufgewachsen sind, ohne Deutsche zu sein. Wer einen deutschen Pass erwirbt, fällt zwar aus der Ausländerstatistik heraus, selten aber aus dem Raster des Fremden. Dabei fühlen sich viele dieser Menschen durchaus in Deutschland zu Hause. Sie haben sich eingelebt, haben sich hier eingerichtet. Sie sind Deutsche geworden, aber auch Türken geblieben. Der Integrationspolitik fehlt eine dialogische Sprache, um mit ihnen zu kommunizieren. Es wird so getan, als schließe die Verwurzelung in Deutschland einen Rückgriff auf die Herkunft aus. Die deutsche Integrationspolitik braucht weniger Ansprache, dafür einen schärferen Blick über die Grenzen hinaus. Sie müsste symbolisch gesprochen zweisprachig sein. Die deutsche Politik tut sich damit schwer. Immer wieder werden gut gemeinte Aufrufe gestartet.

Doch all diese Aktivitäten, die einer pragmatischen Betrachtung der Lage Folge leisten, scheitern bislang an der ablehnenden Grundhaltung der Mehrheitsgesellschaft. Bisher sind die Versuche, die Bevölkerungsmehrheit von der Notwendigkeit eines Umdenkens zu überzeugen, gescheitert. Sie sollen doch so leben wie wir, sich anpassen, heißt es.

Dabei werden immer wieder Rechtsverletzungen, die von muslimischen Migranten begangen werden, hervorgehoben, die Diskriminierung der Frauen durch die Männer, Zwangsverheiratungen, Ehrenmorde. Die Migranten müssen unsere Gesetze einhalten, heißt es. Doch sind das nur unsere Gesetze? Auch in ihrem Herkunftsland, der Türkei, wären diese auf archaischen Normen beruhenden Verhaltensmuster rechtswidrig. Was Geschlechtertrennung angeht, ist die Türkei sogar noch rigider als Deutschland. Der koedukative Unterricht ist dort seit Jahrzehnten durchgesetzt und unumstritten. Kopftücher waren bis vor Kurzem sogar in den Universitäten verboten. Doch in den Diskussionen taucht dieser Aspekt kaum auf. Der Grund ist einfach: Es geht nicht um eine zivilisatorische Erziehung der Menschen, sondern um ihre kulturelle Bevormundung. Das wird besonders deutlich bei den Kontroversen um Moscheen, türkische Schulen und die türkische Sprache. Moscheen, Schulen und die Muttersprache stellen keine Rechtsverstöße dar. Sie sind aber starke Identitätssymbole. Sie werden als Angriffe auf die deutsche Identität wahrgenommen.

Der postmoderne Migrant ist aber ein Pendler, und er wird immer ein Pendler bleiben. Das Auswandern ist zugleich auch ein Einwandern ins eigene Leben. Der Migrant in den Köpfen deutscher Integrationspolitiker ist aber ein Auswanderer des 19. Jahrhunderts, der nicht mehr zu sich selbst zurückkehrt, sondern eine andere Identität annimmt. Den Vorwurf, eine Assimilationspolitik zu betreiben, hört man hierzulande nicht gerne. Dabei ist Assimilation keineswegs ein Menschheitsverbrechen, wie es einmal der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan auf einem seiner zahlreichen Deutschlandbesuche formuliert hat. Assimilation, die auf Einladung erfolgt und auf Freiwilligkeit beruht, bezeugt die Aufnahmefähigkeit einer Gesellschaft, ist ein Beweis ihrer Offenheit gegenüber Fremden.

Der Islam ist zu einem Kulminationspunkt des Fremden geworden, der Islam spaltet das Land. Nicht nur in Muslime und Nichtmuslime. Er spaltet Menschen aller politischen Lager in ihrer Einstellung gegenüber dem, was sie als fremd empfinden, gegenüber der Frage der Einwanderung, der Integration von Menschen unterschiedlicher Herkunft in die deutsche Gesellschaft. Dieser Begriff der Integration ist zu einem Reizbegriff geworden, dessen Diskussion emotional überladen ist. Die Abwehr des Islam mobilisiert das Volk. Diese Abwehr der Alteingesessenen lässt die Muslime im Land nicht kalt. Fast jeder, der muslimische Wurzeln hat, ob gläubig oder ungläubig, praktizierend oder nicht, fühlt sich inzwischen als Muslim angesprochen, als eine potenzielle Gefahr, die die freiheitliche Grundordnung gefährdet.

Der nationale Reflex formuliert immer ein „Wir“, das sich dann aber anderen gegenüber öffnen muss. Das kann nur gelingen, wenn zivilisatorische Errungenschaften nicht national oder kulturell definiert werden, sondern allgemeinmenschlich, kulturübergreifend, transnational. Gerade im Hinblick auf die Muslime in Deutschland wäre das von immenser Bedeutung. Drei Viertel aller Muslime in Deutschland kommen aus der Türkei, einem Land mit einer mindestens hundertjährigen Modernisierungsgeschichte. Ein muslimisches Land mit einer säkularen Tradition und einem eigenen, westlich orientierten Zivilisationsentwurf. Die Türken in Deutschland wären dort leicht abzuholen, wenn man ihre Herkunftsgeschichte innerhalb der Moderne würdigen und anerkennen würde. Doch immer wieder geschieht genau das Gegenteil. Statt an die Errungenschaften der türkischen Moderne zu erinnern und die gemeinsame zivilisatorische Klammer, die verbindet, zu betonen, werden die Türken in ein Islambild gepresst, das sie mit Einwanderern aus anderen islamischen Ländern gleichsetzt, sie allzu oft zu Fundamentalisten und zu einer zivilisationsfernen Gruppe macht. Damit erweist man nicht nur dieser aus der Türkei stammenden Gruppe, die nicht einmal in sich homogen ist, einen Bärendienst, sondern auch den Interessen Deutschlands.

Kulturelle Vermischung ist nicht per se eine Bereicherung, sie ist eine Herausforderung und in unserer Zeit auch eine Selbstverständlichkeit. In Deutschland werden die Fragen der Identität, der Einwanderung und der Integration als Projektionsfläche für Ängste und Sehnsüchte der Mehrheitsgesellschaft missbraucht. Die Massenwanderungen sind ein Phänomen unserer Zeit und werden ein solches Phänomen bleiben. Die Auseinandersetzung mit ihnen müsste erfolgsorientiert und pragmatisch geführt werden. Wir aber haben bislang keine Sprache gefunden, um diese Angst aufzufangen.

Der Autor ist Schriftsteller. Der Text ist ein Vorabdruck aus dem Buch „Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift“, das am 15. März in der edition Körber-Stiftung (190 Seiten, 16 Euro) erscheint.

Zafer Senocak

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