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Welche Klischees es über Deutsche gibt, wissen alle. Aber welche in Deutschland lebenden Volksgruppen fühlen sich wirklich zur Bundesrepublik gehörig?

© dapd

Gastkommentar: Wer sind die Deutschen?

Marc Young glaubt, dass die Definition dessen, was es bedeutet Deutsch zu sein, sich langsam ändert. Und das ist eine positive Entwicklung.

Als ich vor zwei Jahrzehnten nach Deutschland kam, war die Antwort auf diese Frage relativ einfach: Deutsch zu sein war ein Frage des Blutes – selbst, wenn die Vorfahren die letzten Jahrhunderte an der Wolga gelebt hatten.

Falls man allerdings erst kürzlich aus der Türkei, Vietnam, Portugal oder anderswo eingewandert war, hatte man vielleicht die Staatsbürgerschaft, als Deutscher wurde man seinerzeit aber längst nicht angesehen.  Diese Einstellung führte zu allen möglichen Integrationsproblemen in den 90er Jahren. Nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war, gab es einen massiven Zustrom russisch-sprechender “Deutscher”, andere “Immigranten” der zweiten und dritten Generation jedoch fühlten sich nie gänzlich akzeptiert in ihrer Adoptivheimat.

Glücklicherweise scheint sich diese antiquierte Einstellung zum “Deutschtum” zu ändern, und zwar zugunsten einer modernen, werte-orientierten Interpretation der deutschen Staatsbürgerschaft.

In einer kürzlich veröffentlichten Studie lösten Kriterien wie gute Sprachkenntnisse sowie Anpassung an die Gesellschaft die Frage nach der Abstammung weitgehend ab, wenn es um die Definition des “Deutsch-Seins” ging. Seit nun die Deutschen gastfreundlicher gegenüber Außenstehenden geworden sind, sind Neuankömmlinge auch wesentlich eher bereit, sich selbst als Deutsche anzusehen.

Als gut integrierter Immigrant kann ich aus eigener Erfahrung diesen Wandel über die Jahre nur bestätigen.

1992 sagte mir eine “griechische” Studentin, die in Baden-Württemberg geboren und aufgewachsen war, dass sie sich niemals als Deutsche ansehen könnte, weil man ihr immer gesagt hatte, sie sei keine.  Ich kann mir vorstellen, dass sich die arme Frau noch immer in einer Art kultureller Schwebe befindet.

Achtzehn Jahre später, bei der WM 2010, Deutschlands multikulturelle Mannschaft wurde als Spiegelbild der Vielfalt der deutschen Gesellschaft gelobt – das wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen.  Dass Mesut Özil, aufgewachsen im Ruhrpott, für Deutschland spielt statt für die Türkei, ist beispielhaft für beide Seiten der Integrationsfrage.

Mit Deutschlands bevorstehender demographischen Implosion werden Immigration und Integration nur noch an Bedeutung gewinnen. Natürlich sollten Deutsche aus allen Gesellschaftsschichten ermutigt werden, mehr Kinder zu bekommen – sonst wird Europas größtes Land irgendwann kollabieren.  Tatsache bleibt jedoch, dass Deutschlands florierende Wirtschaft und hochgeschätzter Wohlfahrtsstaat ohne weitere Immigranten nicht aufrechterhalten werden kann.

Deshalb ist es ermutigend, dass diejenigen, die diese Gesellschaft schätzen und Interesse an ihrer Zukunft haben, nun langsam als Deutsche angesehen werden.  Ich werde jedenfalls heute Abend darauf ein Bier – gebraut nach dem Reinheitsgebot versteht sich – zum Prost erheben.

Der Autor ist Chefredakteur der Internetzeitung "The Local", die in englischer Sprache aus Deutschland berichtet. Übersetzung aus dem Englischen von Natascha Hoffmeyer.

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