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Kinder sollten länger zusammen lernen und mehr Zeit dafür bekommen, meint Jutta Allmendinger.

© p-a

Essay: Der gleiche Kindergarten - aber vier verschiedene Schulen

Vier Kinder, vier Schulgeschichten: Die Bildungsbiographien von Alex, Erkan, Laura und Jenny zeigen, was schief läuft im deutschen Bildungssystem, schreibt die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin. Sie zeigen aber auch auf, was zu tun ist.

Dies ist die Geschichte von vier Kindern. Im Alter von drei Jahren, im Kindergarten, wurden sie dicke Freunde, schienen unzertrennlich. Heute, 15 Jahre später, leben sie in unterschiedlichen Welten und sind einander fremd. Ihre Geschichte ist ein Spiegel unseres Schulsystems, das trennt, sortiert und spaltet, ein System, das sich trotz dauernder Veränderungen, trotz Pilotprojekten, trotz Lehrer- und Eltern-Engagement im entscheidenden Punkt nicht gewandelt hat: Es fördert Kinder und Jugendliche nicht so, dass alle ihr Potenzial entwickeln können und eine hinreichende Grundlage für ihr Leben haben.

Jutta Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Ihr neues Buch ist soeben bei Pantheon erschienen: Schulaufgaben. Wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden.
Jutta Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Ihr neues Buch ist soeben bei Pantheon erschienen: Schulaufgaben. Wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden.

© David Ausserhofer/WZB

Und das ist die verschworene Gruppe: Alex, das Kind zweier Akademiker, ist mein Patensohn. Erkan ist der Sohn türkischer Händler. Jenny gehörte dazu, deren alleinerziehende Mutter arbeitslos war, und schließlich Laura. Sie ist das leicht behinderte Kind eines Künstlers und einer Friseurin. Sie kamen als Dreijährige aus unterschiedlichen Welten und hatten unterschiedliche Lernerfahrungen. Alex war schon mit sechs Monaten in die Krippe gekommen. Eine hervorragende private Einrichtung, die sich seine gut verdienenden Eltern leisten konnten. Erkan war nicht in die Krippe gegangen.

Seine Mutter war zu Hause und kümmerte sich um die große Familie. Erkan sprach nur Türkisch. Sein Kinderarzt schlug deshalb vor, ihn mit vielen deutsch sprechenden Kindern zusammenzubringen. Jenny war aus anderen Gründen nicht in einer Krippe gewesen. Ihre alleinerziehende Mutter fand für sie keinen Krippenplatz. Jenny war ihr zweites Kind. Die junge, gescheite Frau war seit vielen Jahren nicht erwerbstätig und verlor immer mehr den Halt. Als Jenny drei wurde, organisierte das Jugendamt für sie einen Integrationsplatz im Kindergarten.

So lernte Jenny Alex, Erkan und Laura kennen. Bei Laura war kurz nach ihrer Geburt eine zentrale Bewegungskoordinationsstörung diagnostiziert worden, mittelschwer, therapierbar. Die Eltern wünschten sich, dass Laura möglichst normal aufwächst, und hatten nach vielen Absagen diesen Kindergarten gefunden.

Die vier Kinder schlossen sich schnell zusammen und genossen ihre gemeinsame Zeit. Viele Geburtstage, viele Ausflüge, viele Wochenenden verbrachten sie miteinander. Alex war großmütig und redegewandt. Schnell lernte Erkan Deutsch und rechnete am besten. Jenny sog wie ein Schwamm alles auf, was sie sah und hörte. In Memory war sie nicht zu schlagen. Laura zog mit, so gut es ging. Die Freunde bewunderten ihre phantasievollen Bilder.

Nach drei Jahren wurden die Freunde getrennt. War der Kindergarten noch frei wählbar, so wurde die Schule vom Wohnbezirk zugewiesen. Alex besuchte die gutbürgerliche Schule seines Stadtteils. Jenny und Erkan kamen auf Grundschulen, die in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnungen lagen. Erkan wohnte in einer Gegend mit hohem Ausländeranteil. Jenny lebte in einer Neubausiedlung des sozialen Wohnungsbaus mit vielen Arbeitslosen.

Die Kinder entwickelten sich in ihren Klassen ganz unterschiedlich. Alex war alles andere als ein Selbstläufer. Er lernte nicht aus freien Stücken, brauchte viel Aufmerksamkeit. Als es zu Beginn der vierten Klasse um seine Perspektiven ging, stand für die Lehrer trotzdem fest, dass Alex aufs Gymnasium gehörte. Bei diesen Eltern sei das doch klar.

Erkan wurde ein guter Schüler. Als einer von wenigen seiner Klasse erhielt er eine Realschulempfehlung. Seine Augen strahlten vor Stolz, als er die Neuigkeit erzählte.

Jenny dagegen bewältigte die Schule schlecht. Sie fehlte häufig. Das machten alle in ihrer Klasse so. Die Lehrer erkannten aber das Potenzial des Mädchens und empfahlen sie auf eine Realschule.

Und Laura? Sie wurde ein Jahr zurückgestellt. In dieser Zeit fanden ihre die Eltern eine neu eingerichtete Integrationsschule. Das pädagogische Konzept stand, die Lehrpläne waren geschrieben, gute Sonderpädagogen wurden eingestellt. Auf Lauras Eltern machte die Schule einen hervorragenden Eindruck. Sie wurden enttäuscht. Man akzeptierte Laura nicht; sie würde die anderen Kinder herunterziehen, befürchteten deren Eltern. Nach Phasen völliger Erschöpfung gaben Lauras Eltern auf. Laura wechselte auf eine Förderschule.

Wie sich die Wege der vier Freunde trennten

Die vier Freunde verloren einander. Die Schule, das Leben unterschieden sich immer mehr und damit die Freunde, der Sport, die Musik, die Urlaube, die Sprache.

Alex besuchte das traditionsreiche Gymnasium, wie schon seine Vorfahren. Er hangelte sich von Klasse zu Klasse. Irgendwann flatterten den Eltern die Nerven. Alex erhielt Nachhilfe. Dann kam sein Auslandsjahr. Die Eltern hörten von einer internationalen Schule im englischen Cambridge. Alex bewarb sich und wurde tatsächlich angenommen. Die Schule packte ihn sofort. Er lernte von sich aus und in alle Richtungen. Begleitet wurde er von Lehrern, einem Tutor und vielen anderen Ansprechpartnern. Wie seine Eltern hatte auch ich erwartet, dass er rasch zurückkehren würde, doch das Gegenteil trat ein. Er wollte bleiben und dort sein Abi machen, obwohl das viel anstrengender als in seiner alten Schule war.

Erkan machte sich gut auf der Realschule. Er lernte problemlos und erreichte mit 16 ein gutes Zeugnis der mittleren Reife. Niemand fragte ihn, ob er nicht noch das Abitur ablegen wolle. Seinen Eltern kam das nicht in den Sinn, sie kannten das deutsche Schulsystem zu wenig. Erkan bewarb sich um Lehrstellen als Kfz-Mechatroniker. Schnell merkte er, dass Mitschüler mit typisch deutschen Namen eher zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurden. Am Zeugnis lag es nicht, auch nicht an der Sprache; sein Deutsch war mittlerweile sehr gut. Als er sich endlich einmal vorstellen durfte, bekam er seinen Ausbildungsplatz.

Jenny ging zunächst auf eine Realschule. Sie war hellwach, aber die Schule fesselte sie nicht. Sie suchte Anerkennung und Halt. Auf der Straße, in ihrer Clique, fand sie beides. Nach zwei Jahren wurde Jenny auf eine Hauptschule zurückgestuft. Jenny war ernsthaft gefährdet, auch diese ohne einen qualifizierenden Abschluss zu beenden. Erst da schritten Lehrer und Sozialarbeiter ein. Jenny wurde in eine Praxisklasse aufgenommen. Der Kontakt zu erwerbstätigen Menschen tat ihr gut und motivierte sie. Sie schaffte den Abschluss. Da sie trotzdem keinen Ausbildungsplatz fand, belegte sie eine „berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme“ der Bundesagentur für Arbeit.

Als Laura in die zehnte Klasse versetzt wurde, war absehbar, dass sie die Förderschule ohne qualifizierenden Hauptschulabschluss beenden und auf dem freien Arbeitsmarkt keinen Ausbildungsplatz finden würde. Die Eltern erfuhren von einer Berufsschule, die auch Jugendliche unterrichtet, die nach der zehnten Klasse erst eine „Schnupperlehre“ machen. Laura wurde angenommen. Vielleicht kann sie sogar eine Ausbildung anschließen.

Die Biografien der vier Jugendlichen, denen ich eineinhalb Jahrzehnte lang freundschaftlich verbunden war, zeigen: In Deutschland bleibt die Herkunft bestimmend. Wer aus einem akademisch geprägten Haushalt kommt, schafft es, auch wenn seine Leistungen lange Zeit eher mäßig sind. Wer aus einer nichtdeutschen Familie kommt, in einem Haushalt in sozialer Notlage lebt oder langsamer lernt, bekommt nicht die Chance aufzuholen, nicht die Förderung, die seine Fähigkeiten zur Geltung bringt. Unser Schulsystem ist durchlässig – aber meist nur nach unten, selten nach oben.

Betrachtet man diese typischen Einzelfälle und befragt die Bildungsforschung, die sich seit langem in entscheidenden Punkten einig ist, lernen wir auch, wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden.

Wie sich Schule verändern muss, um gleiche Chancen für alle zu bieten

Wir müssen die Kinder länger gemeinsam lernen lassen, am besten bis zum Alter von 16 Jahren. Wir würden niemanden verlieren, aber viele gewinnen. Unser gegliedertes Schulsystem setzt auf Homogenität. Im Unterschied zu fast allen anderen Ländern trennen wir unsere Kinder sehr früh. „Das fördert ihre Leistung“, meinen die meisten, „Laura zieht Jenny und Erkan leistungsmäßig nach unten, alle drei schaden der Entwicklung von Alex.“ Doch das ist nicht richtig, wie uns die Forschung zeigt. International vergleichende Studien belegen, dass ein längeres gemeinsames Lernen zu mehr leistungsstarken und weit weniger leistungsschwächeren Kindern führen kann.

Warum ignorieren wir diesen Tatbestand? Warum wischen wir Erkenntnisse mit abschätzigen Begriffen wie Gleichmacherei oder Einheitsschule zur Seite? Längeres gemeinsames Lernen führt zu einem höheren Sockel an Bildung für alle. Und, mindestens ebenso wichtig, zu mehr gegenseitigem Respekt. Wie sollen Kinder lernen, Menschen aus anderen sozialen und kulturellen Gruppen anerkennend zu begegnen, wenn sie früh getrennt werden? Längeres gemeinsames Lernen muss allerdings gut vorbereitet werden, es bedarf einer Pädagogik der Vielfalt.

Die Erzieherinnen im Integrationskindergarten der vier Kinder haben gezeigt, dass es geht. Den Umgang mit Vielfalt in der Schule nicht zu leben und das Menschenrecht auf inklusives Lernen zu verweigern, das sind die zentralen Probleme unseres Schulsystems.

Kinder brauchen Zeit und Vertrauen. Nicht alle rennen gleich von allein und schnell los. Alex, der heutige Eliteschüler, ist das beste Beispiel. Unser Schulsystem muss also Zeit geben. Doch wir haben die Gymnasialzeit um ein Jahr verkürzt. Kitas, Kindergärten und Ganztagsschulen fangen den Verlust nicht auf. Wir brauchen zügiger als geplant mehr und qualitativ gute Kinderhorte, Ganztagskindergärten und -schulen. Wir brauchen das Auslandsjahr. Bei einem Arbeitsmark, der sich rascher denn je verändert, sollten wir an Bildungszeit nicht sparen.

Kinder müssen in der Schule verschiedene Fertigkeiten und Fähigkeiten entfalten. Noch trennen wir zu scharf: Die Schule ist für die kognitiven Kompetenzen zuständig, die außerschulischen Lernorte übernehmen den großen Rest. Leitwerte und Schlüsselkompetenzen kann man auch in der Schule lehren und lernen. Dafür müssen wir die Unterrichtsformen ändern, Demokratie, Werte, kulturelle und soziale Kompetenzen vermitteln und die Bereitschaft schulen, Verantwortung zu übernehmen. Als Alex eigenverantwortlich arbeiten durfte, packte ihn das Lernen. Als Jenny erlebte, wofür sie lernt, war das Interesse da. Unterrichtsinhalte dürfen wir nicht zu früh verengen. Über ein langes Leben hinweg müssen wir immer wieder auf ihnen aufbauen können.

Geld allein macht noch kein gutes Bildungssystem aus. Finnland gibt vom Primar- bis zum Tertiärbereich pro Schüler kaum mehr Geld aus als Deutschland. Dennoch unterscheiden sich die Bildungsergebnisse erheblich. Allerdings hält sich Deutschland vor allem in den frühen Schuljahren stark zurück, in denen für die Kinder ein kompensatorisches Lernen am nötigsten ist.

Wir müssen hier umsteuern und gerade die frühen Schuljahre stärker finanzieren. Wir müssen bis 2015 das selbst gesteckte Ziel erreichen und zehn Prozent des Bruttosozialprodukts in Bildung und Forschung investieren. Finanzschwache Bundesländer und Brennpunktschulen müssen mehr Geld und damit mehr Gestaltungsraum erhalten. Zum Wohle unserer Kinder brauchen wir einen solidarischen Föderalismus.

Zeit, Inhalte, Kreativität und Geld – mit diesen Elementen müssen wir eine Infrastruktur aufbauen, die mit gut qualifiziertem und gut bezahltem Personal unsere Kinder bildet. Eltern brauchen unsere Unterstützung. Die vielen Akteure im Bildungsverlauf müssen miteinander vernetzt werden. Hierzu benötigen wir die Zusammenarbeit ganz unterschiedlicher Institutionen und Professionen. In diesem Sinne müssen Bund, Länder und Gemeinden wieder kooperieren. Aber auch lokale Bildungsnetze sind enorm wichtig.

Wir brauchen Bildungsketten: Schulen, Jugendämter, Jugendzentren und Jobcenter müssen viel enger zusammenarbeiten, Warnsignale früh erkennen und rechtzeitig reagieren. So wird es gelingen, mehr Kinder als bisher besser zu bilden. Der Ertrag wird hoch sein, nicht nur wirtschaftlich betrachtet, sondern auch, was Glück und Zufriedenheit angeht.

Jutta Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Ihr neues Buch ist soeben bei Pantheon erschienen: Schulaufgaben. Wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden.

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