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Artikel 3 Grundgesetz: Nur schöne Worte? Gesetze gegen Diskriminierung versuchen das.

© Reiner Zensen/imago

Ein Jahr Landesantidiskriminierungsgesetz: Menschenwürde, die konkret wird

Die Ängste vor dem Berliner Antidiskriminierungsgesetz waren ebenso groß wie unberechtigt. Es macht sogar Schule. Gut so. Ein Kommentar.

Berlin war vor einem Jahr Pionierin, doch andere Länder könnten folgen. Das schwer umkämpfte Werk mit dem Silbenschleppzug im Namen, das “Landesantidiskriminierungsgesetz”, das seit genau einem Jahr in der Hauptstadt gilt, hat auch andere auf den Geschmack gebracht, wenn sie ihn nicht schon länger hatten – Thüringen zum Beispiel, dessen rot-rot-grünes Regierungsbündnis sich ein solches Gesetz bereits in den Koalitionsvertrag geschrieben hatte – und es jetzt wegen vorgezogener Neuwahl nicht durchbringen wird.

In Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg haben die neuen Koalitionen eines vereinbart. Ja oder Nein zur gesetzlichen Regelung laufen dabei nicht strikt nach politischen Farben, wie kürzlich der Mediendienst Integration in einer Umfrage unter den 16 Regierungen herausfand. So lehnen das rot-grün regierte Bremen und Rot-Schwarz in Mecklenburg-Vorpommern es ebenso ab wie die unionsgeführten Länder Sachsen-Anhalt und Bayern. Hessen und Sachsen prüfen derzeit, ob sie ein Gesetz brauchen.

Erstaunlich, wenn man die Untergangsszenarien bedenkt, die den Berliner Aufschlag von Beginn an begleiteten. Von Generalverdacht gegen die Polizei war da die Rede, Beamte und Sachbearbeiterinnen auf Ämtern würden in Bausch und Bogen zu Rassist:innen gemacht, eine Klagewelle prophezeit. Nichts davon ist in einem Jahr passiert. Und wer die fast wortgleichen Debatten nachliest, als das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verabschiedet wurde, das vor 15 Jahren in Kraft trat, darf vermuten: Das wird es auch in Zukunft nicht.

Wer für den Staat Gewalt anwenden darf, muss sich auf die Finger sehen lassen

Damals liefen die Arbeitgeberverbände gegen das Gesetz Sturm, diesmal (Teile der)  Polizeigewerkschaften. Berlins Polizeisprecher Thilo Cablitz hielt kürzlich in einem Pressegespräch gelassen dagegen: Das LADG ziele letzten Endes auf “eine Konkretisierung von Menschenwürde. Was könnte man dagegen haben?”

Dem lässt sich wenig hinzufügen. Außer vielleicht, dass sich Institutionen, die im Namen des Staats handeln – wie Ämter, auch Schulen - , ja sogar als Polizistinnen und Polizisten in seinem Namen Zwang und Gewalt anwenden dürfen, etwas mehr kritische Aufmerksamkeit gefallen lassen müssen als jemand, der auf einer Theaterbühne steht oder Milch verkauft.

Es fällt den meisten Menschen unendlich schwer, auch nur in die Nähe des Rassismusverdachts gerückt zu werden. Er trifft, mehr noch als der Vorwurf, Frauen sexistisch, Schwule homophob beleidigt zu haben. Womöglich weil wir hier in Deutschland sind und als Nation eine völkermörderische Rassismusgeschichte haben, die ebenso Scham auslöst wie Stolz darüber, sie so angeblich perfekt aufgearbeitet, “bewältigt” zu haben.

Es wäre Zeit, sich endlich einzugestehen, dass das gar nicht geht. Wir haben es ja nicht einmal geschafft, nach zwölf Jahren NS-Terror den Antisemitismus auszurotten. Selbst in deutsche Parlamente wird er wieder gewählt.

 Eine Chance, kostbares Wissen zu sammeln

Was 500 Jahre Unterwerfung des südlichen Teils der Welt durch den nördlichen in unsere Hirne und Gefühle eingeschrieben haben, die verordnete Hierarchie der Hautfarben, Rassismus eben, ist zum Bewältigen erst recht zu groß. Und vor allem ist es kein individuelles Problem. Es sieht nur danach aus, weil es sich persönlich äußern kann und dann leichter greifbar wird: in der herabsetzenden Bemerkung über “die Türken”, im Nein der Vermieterin einem schwarzen Wohnungssuchenden gegenüber. In Polizeikontrollen, die nur Dunkelhäutigen gelten, oder im Fall der ausbleibenden Gymnasialempfehlung für ein Kind aus libanesischer Familie ist er schon weniger greifbar.

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Der Antisemitismus ist nicht abgeschafft, leider. Aber seine öffentliche Tabuisierung hat Bewusstsein geschaffen. Das muss jetzt auch mit anderen Formen von Menschenhass, Diskriminierung, Rassismus geschehen. Einrichtungen, die das fördern, seien es Gesetze oder gut ausgestattete, unabhängige und kompetente Ombudsleute oder auch beides, sind die Chance, dieses Bewusstsein zu verbreitern und so strukturellem Rassismus womöglich ein Ende zu bereiten. Das ist der, der nicht in einzelnen bösen Menschen sitzt, sondern überall in den Tapeten.  

Doris Liebscher, die Fachjuristin an der Spitze der neuen Berliner Landesstelle, erkennt jetzt schon “Muster” in den Diskriminierungsfällen, die bei ihr auflaufen, und in den Reaktionen darauf. Wenn sie und ihr Stab dieses Material aufarbeiten können, wenn auch über Berlin hinaus daran gearbeitet wird, kann kostbares Wissen entstehen über rassistische Mechanismen, Strukturen, und wie sie sich überwinden lassen. Für ein Gemeinwesen, das fast täglich vielfältiger und bunter wird. Und das es sich schon heute nicht mehr leisten kann, die alten Tapeten kleben zu lassen.

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