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Meinung: Die grüne Elite

Umwelt-, Natur- und Klimaschützern fehlt oft das soziale Gewissen: Wer arm ist, den macht Öko noch ärmer

Die Deutschen sind die fleißigsten Müllsortierer. Gebrauchte Glühbirnen und Batterien bringen sie brav zu Sonderverwertungsstellen, sie bauen Tunnel unter Autobahnen, damit Frösche passieren können. Sie kämpfen für bedrohte Bäume und bedrohte Tiere, immer mehr Windräder beherrschen das Landschaftsbild, Umweltschutz wird in der Schule gelehrt, der Einsatz für den Klimaschutz ist das Markenzeichen der Bundeskanzlerin.

Historisch und psychologisch ist diese enge Bindung an die Ökologie verständlich. Irgendeine Ideologie brauchen die Deutschen nun mal. Mit Faschismus und Kommunismus haben sie schlechte Erfahrungen gemacht. Das Ideal der Freiheit und demokratische Tugenden wiederum mussten ihnen erst mühsam beigebracht werden. Da kam die Ökologie gerade recht. Mit ihr glauben die Deutschen, eine Vision zu haben, mit der sie zum ersten Mal auf der richtigen Seite der Geschichte sind, auf der Seite der Guten und der Zukunft.

Das erklärt den unaufhaltsamen Aufstieg der Grünen. Seit fünf Wochen liegt die Partei in Umfragen bereits vor den Sozialdemokraten. Knapp hinter der Union entwickeln sich die Grünen langsam, aber stetig zur zweitstärksten politischen Kraft im Land. Wären morgen Bundestagswahlen, könnten sie in einer Koalitionsregierung mit der SPD sogar den Kanzler stellen.

Und in Berlin bei Landtagswahlen den Regierenden Bürgermeister. An diesem Freitag will Renate Künast ihre Kandidatur verkünden. Wirtschaftsvertreter jubeln bereits. Denn längst kommen die Anhänger der Grünen nicht mehr vorrangig aus der links-alternativen Ecke, sondern aus dem gut situierten Bürgertum. Laut dem Meinungsforschungsinstitut Forsa wollen 37 Prozent der deutschen Beamten grün wählen, unter den Beamten im höheren Dienst sind es sogar 41 Prozent, und knapp jeder dritte Selbstständige spricht sich für die Öko-Partei aus. Die Grünen-Wähler sind „wohlversorgte Postmaterialisten“, sagt Forsa-Chef Manfred Güllner, ihr Haushaltseinkommen ist höher als das der Sympathisanten anderer Parteien. Arbeiter und Rentner suchen ihr Heil woanders.

Dabei haben alle anderen Parteien längst auch die Ökologie entdeckt. Kanzlerin Angela Merkel war einmal Bundesumweltministerin, SPD-Chef Sigmar Gabriel ebenso. Selbst die Liberalen setzen auf die Sogwirkung dieses Trends. So hat die Regierungskoalition aus Union und FDP vor kurzem das ehrgeizigste Klimaschutzprogramm der Welt verabschiedet. „Sauberer Strom für alle“ heißt der Slogan. Windparks im Meer, Solaranlagen, Stromspeicher, energetische Gebäudesanierung: Bis 2050 soll sich Deutschland nahezu vollständig aus regenerativen Energien versorgen können, der Kohlendioxid-Ausstoß aller Häuser soll auf Null gedrückt werden.

Das kostet zwar Unsummen, stört die Deutschen aber kaum. Der Strompreis wurde bereits drastisch erhöht, auf Mietpreiserhöhungen hat Merkel die Bürger schon vorbereitet. „Das findet natürlich auf den ersten Blick nicht jeder gut“, sagt sie, aber auf Dauer würden alle davon profitieren. Dass heutige Generationen die Hauptlast des ökologischen Umbaus des deutschen Energiesystems tragen müssen, ist Konsens in Deutschland. Kritisiert wurde lediglich, dass das Energiekonzept nicht radikal genug sei. Wir sind die Guten.

Außerdem lohnt es sich, gut zu sein. Längst sind Ökologie und Wirtschaft keine Gegensätze mehr. Im Gegenteil: Die Exportnation will die Umwelttechnik zur Leitindustrie des 21. Jahrhunderts machen. In 15 Jahren soll sie die Automobilwirtschaft überholt haben. Grüne Technologie birgt gigantische Wachstumschancen und Energieeffizienzgewinne. Ein Milliardenmarkt ist entstanden, und Deutschland ist in zahlreichen Zukunftsbranchen Marktführer mit einem Weltmarktanteil von 15 bis 20 Prozent. Schon heute arbeiten etwa 1,5 Millionen Deutsche in der Umweltschutzindustrie.

Die Ökologie als Wirtschaftsankurbelungsideologie: Viele teuren Produkte des Alltags – Glühbirnen, Kühlschränke, Autos – müssen ständig neu gekauft oder umgerüstet werden, aber nicht wegen Materialermüdung, sondern weil sie den jeweils aktuellsten Umweltschutzanforderungen nicht mehr entsprechen. Diese Normen eignen sich auch hervorragend als Importabwehrwaffe. Keine chinesische Plastikpuppe darf rein, kein genmanipuliertes Nahrungsmittel verkauft werden. Aus dem obersten deutschen Reinheitsgebot wird eine Art Nationalökologismus. Unsere Moral schützt unsere Märkte.

Nur: Die Zeche zahlt der Verbraucher. Die klimafreundliche Sanierung der deutschen Altbauten wird schätzungsweise rund 2,5 Billionen Euro kosten. Die Hausbesitzer dürfen diese Ausgaben auf die Mieter umlegen. Das heißt, die Mieten werden regelmäßig über Jahre hinweg stark steigen. Allein in Berlin, so die Schätzung des Mietervereins, wird fast jeder dritte Haushalt deshalb umziehen müssen. Das betrifft vor allem Geringverdiener und Arbeitslose.

Ökologie muss man sich halt leisten können. Die Grünen können sie sich leisten. Die sozial Schwächeren aber haben das Nachsehen. Teure Bioprodukte, Kerosinaufschläge, Benzinpreiserhöhungen, höhere Parkgebühren in Großstädten, höhere Strompreise, höhere Mieten – wer arm ist, wird durch die Ökologie noch ärmer. Einen sozialen Ausgleich nämlich sehen all diese Maßnahmen nicht vor. Und wem dann für einen Flug mit der Familie nach Mallorca das Geld fehlt, dem empfehlen die Ökos, auch mal Urlaub in der Heimat zu machen. Das würde den inländischen Tourismus ankurbeln.

Wer sich auf der richtigen Seite der Geschichte wähnt, kann im kalten Ton der Arroganz die sozialen Folgen eines Radikalökologismus als unvermeidbaren Kollateralschaden betrachten. Und war es dem deutschen Beamten nicht schon immer unangenehm, den Strand in exotischen Ferienregionen mit einer einfachen Arbeiterfamilie teilen zu müssen – nur weil es Billigflieger gibt?

Früher hieß es, die grüne Bewegung sei wirtschaftsfeindlich, gefährde Arbeitsplätze und Konjunktur. Heute sieht man, dass der Ökologisch-Industrielle Komplex nicht nur ein starker Innovationsmotor ist, sondern soziale Ungleichheiten mehr verstärkt, als es neoliberale Ideologen wohl je vermocht hätten. © Dow Jones & Company, Inc.

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