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Eine Frau betet an den Gräberin in der Gedenkstätte Potocari in Srebrenica. Trauerfeiern am 25. Jahrestag sind wegen der Pandemie abgesagt.

© Dado Ruvic/REUTERS

25 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica: Ein Frieden, der seinen Namen nicht verdient

Wegen der Pandemie sind die Trauerfeiern an der Gedenkstätte zum Jahrestag abgesagt. Fast eine Metapher für das forcierte Vergessen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Als Emina A., die junge Frau aus Srebrenica, diesen schlichten Satz sagte, wusste jeder um sie herum, was gemeint war. Sie sagte: „Jetzt haben sie Vater gefunden.“ Allen Verwandten war klar, was „gefunden“ bedeutet.

Fällt das Wort in Familien aus Srebrenica, dann geht es um einen der 8000 seit dem Massenmord im Juli 1995 vermissten Väter, Ehemänner, Brüder und Söhne, deren sterbliche Überreste aus einem Massengrab exhumiert wurden, damit ihre Identität durch forensische Technik geklärt werden konnte.

Das vage Hoffen von Emina A., ihr Vater könne noch leben, irgendwo, vielleicht als Gefangener oder Umherirrender, war erloschen, als vor Jahren „der Anruf“ kam.

Jeden Sommer reisen Tausende Überlebende zu den Trauerfeiern nach Srebrenica, wenn an der Gedenkstätte Potocari neu identifizierte Opfer des serbischen Genozids an Muslimen bestattet werden.

2009 waren 40000 Trauernde am Ort, 534 Tote wurden beerdigt. 2010 standen 775 Särge aufgereiht zwischen den grünen Hügeln von Ostbosnien. 2012 waren es 520. Vergangenes Jahr wurden 33 Ermordete bestattet. Von tausend Menschen fehlen noch Spuren.

Die Potocari-Gedenkstätte bei Srebrenica.
Die Potocari-Gedenkstätte bei Srebrenica.

© AFP

Diesen Sommer, ein Vierteljahrhundert nach dem Genozid, sollen acht identifizierte Tote in die Erde von Potocari gesenkt werden. Doch wegen der Corona-Pandemie sind die großen Zeremonien für den Jahrestag abgesagt.

Zehntausend Gäste wollten an einem Friedensmarsch teilnehmen, 100000 an der Bestattung, wie Munir Habibovic, ein Organisator, dem Balkan Investigative Reporting Network (BIRN) in Sarajevo mitteilte. Viele wollen wenigstens Videobotschaften schicken, au tröstendes Umarmen müssen sie verzichten.

Das Erinnern an die kollektiven Traumata wird verweigert

Eine Pandemie verhindert 2020 das kollektive Trauern, und sie wirkt wie eine Metapher für die forcierte Amnesie, die das Erinnern an kollektive Traumata verweigert. So lernen Bosniens Schulkinder heute je nach „Ethnie“ Versionen der Geschichte, die verzerrte Helden- und Opfernarrative fortschreiben.

Teils hat sich das Konzept „Zwei Schulen unter einem Dach“ verstetigt, Kinder nutzen getrennte Eingänge und Gebäudeflügel, Schulhöfe sind durch Zäune geteilt. Und jetzt, vor dem wichtigen Jahrestag, gewinnen Beobachter wie Ahmed Hrustanovic den Eindruck, dass entmenschlichende, serbische Narrative in Medien und im Internet an Fahrt aufnehmen.

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In Jugoslawien hatte sich nach dem Tod von Staatschef Tito 1980 und dem Ende des Kalten Krieges 1989 ein politisches Vakuum aufgetan, das wie ein Sog auf ethno-nationalistische Kräfte wirkte, die in den Leerraum einströmten.

Serbien fand sich zur Führung ausersehen und behauptete Ansprüche auf „ethnisch reine“ Gebiete. Ein Kriegsziel von „Großserbien“ hieß „ethnische Säuberung”, „etnicko cišcenje“: Nichtserben sollten fort.

Während Jugoslawien zerfiel, feierte man den Mauerfall

Als der Irrsinn von Jugoslawiens destruktiven Zerfallskriegen begann, fand sich das übrige Europa in der Euphorie nach dem Mauerfall, und als Srebrenica fiel, verhüllte Christo den Reichstag, man feierte und tanzte. Krieg?

Das passte nicht zur Stimmung. Europa sah zu und verdrängte. Erst nach den Massakern von Srebrenica intervenierte die Nato, und nur auf Drängen von Amerikas Außenministerin Madeleine Albright.

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Ende 1995 schuf das Abkommen von Dayton Frieden – nicht jedoch in den Köpfen der Bevölkerung. Dayton teilte Bosnien und Herzegowina in eine bosnisch-kroatische Föderation und eine „Serbenrepublik“, die Republika Srpska, in der auch Srebrenica liegt.

Fortan flossen Milliarden auch aus der EU in die zertrümmerte Region, doch um die Inhalte von Schulbüchern oder Medien kümmerte man sich im Büro des Hohen Repräsentanten (OHR) der internationalen Gemeinschaft kaum, aus Unkenntnis, Konfliktscheu und Furcht vor „kolonialem“ Verhalten. Nationalistische Politiker hetzen meist ungestört weiter an der Wahrheit vorbei.

Schulbücher unterschlagen die Fakten

Auch darum bleibt die Quote der Rückkehrer nach Srebrenica eine der niedrigsten im Land. Emina A., in der Kindheit als Asylbewerberin nach Berlin gekommen, will ebenfalls nicht zurück.

Zehnmal kam schon „der Anruf“, wenn Forensiker den Namen eines Verwandten einem der Ermordeten zugeordnet hatten, einem der Opfer bosnisch-serbischer Paramilitärs und Soldaten unter General Ratko Mladic. Der wurde im November 2017 vom Den Haager UN-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien zu lebenslänglich verurteilt. Im Kontext mit dem Genozid von Srebrenica verurteilte das Tribunal 47 Angeklagte zu insgesamt mehr als 700 Jahren Haft.

Frauen und Kinder wurden aus der muslimischen Enklave Srebrenica im Osten Bosniens evakuiert. Am 11. Juli 1095 begannen bosnisch-serbische Truppen mit der Erstürmung und dem Massenmord an den Männern.
Frauen und Kinder wurden aus der muslimischen Enklave Srebrenica im Osten Bosniens evakuiert. Am 11. Juli 1095 begannen bosnisch-serbische Truppen mit der Erstürmung und dem Massenmord an den Männern.

© Michel Euler/ dpa

Doch viele der Täter laufen bis heute frei umher – während auch serbische Schulbücher fortgesetzt die Fakten unterschlagen. Sie erzählen nichts davon, wie muslimische Frauen und Kinder mit Bussen aus Srebrenica fortgeschafft wurden, ehe die Jungen und Männer getötet wurden.

Verschwiegen wird das Kalkül, wonach die Familien ohne den Schutz ihrer Väter, Großväter, Ehemänner, Brüder und Söhne nie zurückkehren würden. Nicht gesagt wird, wie die Täter tagelang Gruppen halb verdursteter Verschleppter liquidierten, auf Äckern, in Turnhallen oder Lagerhäusern.

Von einem "Genozid in Zeitlupe" sprach ein Beobachter

Etwa 25000 bosnische Muslime hatten in der 1993 eingerichteten Schutzzone Zuflucht gesucht, ohne Schutz zu finden. Da serbisches Militär Hilfslieferungen abpasste, begann dort mit Hunger und Not ein „Genozid in Zeitlupe“, wie ein UN-Gutachter bald berichtete. Mitte 1995 schien dem serbischen Militär die Zeit reif für den Massenmord.

Tatenlos standen niederländische UN-Blauhelme dabei, als den Todgeweihten Ausweise und Schuhe abgenommen wurden, denn der UN fehlte ein „robustes Mandat“, ihre Soldaten durften nicht mit Waffen eingreifen. Mehrere nahmen sich später das Leben.

Heute leben Angehörige der Opfer von Srebrenica verstreut über den Globus, in Skandinavien, Deutschland, Australien oder in den USA, wo unter anderem in St. Louis im Bundesstaat Missouri eine große Community entstand.

Mehr als 6600 Mal erhielten Überlebende Anrufe wie die bei der Familie von Emina A.. Auch 14 weibliche Opfer hat man gefunden, das jüngste ein Baby, die Älteste, Saha Izmirlic, kam 1901 zur Welt.

Gewalt gegen Kinder ist noch immer geläufig

Gewalt gegen Kinder in Familien ist ein zentraler Faktor gewaltaffiner Kulturen, und inzwischen gibt es gesetzliche Gewaltverbote in Mazedonien, Montenegro, Kroatien, Slowenien und im Kosovo.

Aber insbesondere in Serbien und in Bosnien Herzegowina verläuft der Abschied vom „traditionellen Erziehungsstil“, Kinder mit Gewalt gefügig zu machen, zäh; gegen gesetzliche Verbote gibt es Widerstand, es darf weiter legal zugeschlagen werden.

Nein: Schulbuchtexte und Gewaltschutz, das ist keineswegs Kinderkram. Kaum etwas hat mehr Relevanz für Friedensprozesse, als der Umgang mit der jüngsten Generation. Denn entweder wachsen die ethnischen Krieger von morgen heran, oder Demokraten, die den Wert von Wahrheit, verbalem Verhandeln und Integrität schätzen. Mit ihnen kann der Frieden entstehen, der seinen Namen verdient.

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