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Allein zwölf Mal nominiert. Das Netflix-Epos „The Power of the Dog“ von Jane Campion – im Bild links neben der letztjährigen Oscar–Gewinnerin Chloe Zhao – hat bereits den Directors Guild of America gewonnen.

© Mario Anzuoni/Reuters

Zwischen Hollywood-Kino und Streaming: Die Oscar-Verleihung als Krisengipfel

Hollywood hat ein unübersehbares Problem: Gleich drei Streamingproduktionen gehören zu den Top-Ten-Kandidaten für den besten Film.

Von Andreas Busche

Mit Hollywood und den Streaminganbietern verhält es sich ein bisschen wie mit der Henne und dem Ei. Was war zuerst da, die Krise des Kinos, dank der sich verändernden Konsumgewohnheiten des Publikums, oder die Konkurrenz von Netflix, Apple & Amazon mit ihren schier unerschöpflichen Produktionsmitteln – und vor allem Reichweiten? In diesem Jahr könnte die Krise die Filmbranche, die sich wenigstens bei der größten Selbstbeweihräucherungsshow des Jahres, der Oscar-Verleihung, bislang den Avancen der Streamer erfolgreich zu erwehren verstand, jedoch empfindlich treffen.

Mit zwölf Nominierungen ist Jane Campions von Netflix produzierter Spätwestern „The Power of the Dog“ bei den 94. Academy Awards, die in der Nacht von Sonntag auf Montag in Los Angeles verliehen werden, nicht nur zahlenmäßig haushoher Favorit. Die neuseeländische Regisseurin hat bereits bei den Golden Globes und dem britischen Bafta abgeräumt, sowie den DGA-Award des US-Regieverbands gewonnen.

Zwar ist mit dem Blockbuster „Dune“ von Denis Villeneuve und klassischem Starkino von Steven Spielbergs „West Side Story“ über Guillermo del Toros „Nightmare Alley“ bis zum Tennis-Biopic über die Williams-Familie „King Richard“ das traditionelle Hollywood dieses Jahr populär vertreten. Aber schon lange nicht mehr stand ein einziger Film so prominent im Fokus wie „The Power of the Dog“. Es sagt wohl einiges über den Zustand der Industrie, das solch ein im besten Sinn klassisches Epos vor allem im Heimkino zu sehen war.

Als Format überholt: Die Oscar-Zeremonie

Mit dem feelgood Gehörlosen-Drama „Coda“, finanziert von Apple, und der Endzeit-Satire „Don’t Look Up“, ebenfalls Netflix, befinden sich dieses Jahr gleich drei Streamingproduktion unter den zehn Kandidaten für den besten Film. Man muss aber gar nicht erst die Nominiertenlisten zu Rate ziehen, um die Krise Hollywoods zu erkennen.

Auch die Zeremonie hat sich als Format überholt, im vergangenen Jahr erzielte die Mammutveranstaltung, die pandemiebedingt von zwei Orten übertragen würde, katastrophale TV-Einschaltquoten. Eine Moderation, auf die drei Jahre verzichtet wurde, hatte da schon niemand mehr vermisst. Trotzdem kehrt die Academy Sonntagnacht zu dieser Tradition zurück: Mit den Komikerinnen Amy Schumer, Wanda Sykes und Regina Hall werden die Oscars erstmals von drei Frauen moderiert.

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Was Hollywood als progressiv verkauft, ist trotzdem nicht mehr als Makulatur. Und auch mit der zweiten Reform zur Straffung der dreistündigen Gala hat sich die Academy keinen Gefallen getan: Die Entscheidung, acht weniger prominente Auszeichnungen lediglich aufzuzeichnen und später in der Live-Zeremonie als Best-of einzuspielen, hat Kritik nach sich gezogen – unter anderem von James Cameron, Jane Campion und Steven Spielberg, dessen Musical-Remake „West Side Story“ in den „Nebenkategorien“ Produktionsdesign, Kostüm und Sound nominiert ist. Sie halten es für einen Fehler, den Glamourfaktor zu stark in den Vordergrund zu stellen. Dass die Oscars schon länger ein Popularitätsproblem haben, liegt jedoch nicht an den Editorinnen, Make-Up-Artists und Kostümdesignern, die nun in der Gala auf die billigen Plätze verwiesen werden.

Unterhaltungsgenie Steven Spielberg ist bei den diesjährigen Oscars mit seiner Adaption der "West Side Story" nominiert.
Unterhaltungsgenie Steven Spielberg ist bei den diesjährigen Oscars mit seiner Adaption der "West Side Story" nominiert.

© Valerie MaconAFP

Einige Reformbemühungen der Academy wirkten in den vergangenen Jahren immer verzweifelter: Erst sollte ein weiterer Oscar für einen „populären Film“ eingeführt werden, dann wurde die Kategorie „Bester Film“ auf zehn Titel erweitert. In diesem Jahr gibt es nun erstmals eine Publikumsabstimmung, um abtrünnige Filmfans wieder mehr in die Oscar-Verleihung einzubeziehen. Die Oscar-Sieger 2020 (die südkoreanische Satire „Parasite“ von Bong Joon-ho) und 2021 (Chloé Zhaos „Nomadland“) waren Arthousekino, damit lockt man zur Primetime keine Zuschauer:innen vor den Fernseher.

Somit werden die Oscars – auch mit der zunehmenden Diversifizierung der Academy, die inzwischen auf fast 10 000 Mitglieder angewachsen und internationaler geworden ist – zum Spiegelbild einer zersplitterten Filmöffentlichkeit: zwischen Kino und Streaming, klassischem Hollywood und globalem Arthouse. Sollten die Prognosen stimmen, übernimmt die diesjährige Verleihung möglicherweise sogar eine integrierende Rolle.

Jane Campion zum Beispiel könnte als erster Frau das Kunststück gelingen, die Regie- und Drehbuch-Oscars sowie den Preis für den besten Film zu gewinnen. (Zuletzt gelang dieses Triple Bong Joon-ho). Campion wäre damit auch die erste Regisseurin, die zum zweiten Mal den Oscar gewinnt, wobei sie 1994 „nur“ den Drehbuchpreis für „Das Piano“ erhielt.

Mit dem Science-Fiction-Epos „Dune“, das in den technischen Kategorien die meisten Preise einsammeln dürfte (sowie möglicherweise dem deutschen Komponisten Hans Zimmer seinen zweiten Oscar beschert) und „West Side Story“ ist die diesjährige Verleihung durchaus populistisch aufgestellt.

Gute Chancen für Will Smith und Kristen Stewart

Eine Geheimfavoritin für die beste weibliche Nebenrolle ist seit dem Golden Globe und dem Bafta die Entdeckung Ariana DeBose in der Rolle, mit der Rita Moreno bereits vor sechzig Jahren im Original den Oscar gewann. Und in der männlichen Nebenrolle könnte mit Troy Kotsur zum zweiten Mal nach seiner „Coda“-Partnerin Marlee Matlin ein gehörloser Darsteller den Oscar gewinnen. Will Smith (in „King Richard“) und Kristen Stewart (als Lady Diana in „Spencer“) sind in den Hauptdarsteller-Kategorien favorisiert.

Gut möglich also, dass diese Oscars, bei aller Kritik, die Teilöffentlichkeiten der aktuellen Filmkultur am Ende sogar paritätisch abbilden. Allenfalls die veränderte Demografie der Academy, die bereits vor zwei Jahren mit „Parasite“ einen fremdsprachigen Film auszeichnete, könnte solche Prognosen noch über den Haufen werfen.

Denn fast unbemerkt avancierte in den vergangenen Monaten die Murakami-Verfilmung „Drive My Car“ von Ryusuke Hamaguchi (auch für den Regie-Oscar nominiert) zum Liebling der Kritik. Es wäre jedenfalls eine konsequente Wahl, um doch noch einen Netflix-Triumph zu verhindern.

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