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Ein traditionelles Kartenspiel.

© Reuters

„Zart und frei“ von Carolin Wiedemann: Auf neue Beziehungen einlassen

Alle profitieren davon, wenn das Patriarchat fällt: Carolin Wiedemann entwirft in „Zart und frei“ das Bild einer Welt ohne geschlechtsspezifische Zwänge.

Es gibt dieser Tage nicht wenige, die argumentieren, dass es nun auch mal gut sei mit diesem Feminismus. Die Männer stünden doch längst am #MeToo-Pranger, die dritte Geschlechtsoption existiere in Deutschland, und das Gendersternchen hat selbst den öffentlich-rechtlichen Rundfunk erreicht. Diesen Stimmen setzt Carolin Wiedemann zu Beginn von „Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats“ (Matthes & Seitz, Berlin 2021. 200 Seiten, 20 Euro) eine beklemmende Schilderung entgegen.

„Auf dem Fahrrad mit kurzer Hose durch Berlin. Eine Strecke von 20 Minuten. Einer ruft mir „Fotze“ hinterher, einer anderer pfeift mir nach. Durchschnittliche Quote.“ Das Patriarchat mag hierzulande juristisch kaum noch verankert sein, doch im Alltag wirkt sein Gift fort. Noch immer gibt jede dritte Frau an, am Arbeitsplatz sexuell belästigt zu werden. Andere unterwerfen sich dem Schönheitsideal des thigh gaps (die Oberschenkel sollen sich beim Stehen nicht berühren), während der pay gap, die geschlechtsspezifische Lohnlücke, fortbesteht.

Es sind solche Beispiele, die den Ausgangspunkt von Wiedemanns Analyse moderner patriarchaler Verhältnisse bilden. Dabei stellt sie heraus, dass die antifeministische Mobilisierung in den vergangenen Jahren gerade an vermeintlich liberalen Orten der Welt wiedererstarkt ist. So mehren sich in Berlin die Berichte von transfeindlichen Übergriffen, in Polen entstehen so genannte LGBT-freie Zonen, ein obszöner Misogynist wird US-Präsident.

Zusammenhang von Kapitalismus und Patriarchat

Und längst hat der Rechtspopulismus das Patriarchat als überlebenswichtige Organisationsform der westlichen Welt ausgerufen („Einwanderung durch den Geburtskanal deutscher Frauen“). Der Hass auf alles, was sich der traditionellen Geschlechterordnung entziehen will, kulminiert in Amokläufen neurechter Gewalttäter. Aber, so betont Wiedemann, auch im liberalen und linken Milieu rollt der Backlash. Immer wieder heiße es dann, der Feminismus sei über das Ziel hinausgeschossen – spätestens als er sich zum Queerfeminismus gewandelt und das binäre Geschlechterverständnis aufgegeben habe.

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Wiedemanns Anliegen in „Zart und frei“ ist es hingegen, aufzuzeigen, dass der Queerfeminismus keineswegs nur auf Partikularinteressen von Minderheiten abziele, sondern letztlich alle Menschen davon profitieren, wenn die Vormachtstellung weißer, heterosexueller Cis-Männer bröckelt.

Kernstück von „Zart und frei“ ist die Analyse des Zusammenhangs von Kapitalismus und Patriarchat. Nach Exkursen ins Zweistromland nach Babylonien, in die Zeit der Hexenverfolgung und die Epoche der Aufklärung, zeichnet die Autorin ein Bild davon, wie männliche Herrschaft ein verhängnisvolles Machtdreieck mit Ökonomie und Nationalstaat bilden konnte. Und wie sich ein historisch gewachsenes Geschlechterbild tief mit den Funktionsweisen unserer Gesellschaftsform verwoben hat.

Entschieden, aber nicht verbissen

Es ist eine beeindruckende Materialfülle, aus der die Autorin dabei schöpft. Im 16-seitigen Anhang finden sich Werke von Susan Faludi bis Klaus Theweleit, von Friedrich Engels bis Margarete Stokowski. Trotzdem wirkt „Zart und frei“ zu keinem Zeitpunkt wissenschaftlich überladen. Vielmehr zeugt das Buch von geschichtlichem Bewusstsein, verbindet anschauliche Alltagsbeispiele mit Studienergebnissen, komplexe Ideen mit einer klaren Sprache.

In der zweiten Hälfte wagt Wiedemann dann den Gegenentwurf und schreitet zur Praxis neuer Beziehungsweisen voran. Sie berichtet von neuen Formen von Liebesbeziehungen und alternativen Familienmodellen jenseits der Kleinfamilie. Und von Männern, die sich selbstkritisch mit Maskulinitätsidealen auseinandersetzen.

Die Gesellschaft, so legt Wiedemann überzeugend dar, rutsche durch das Aufweichen von starren Geschlechterbildern nicht in postmoderne Beliebigkeit ab, Individuen könnten vielmehr zu freieren Formen des Miteinanders finden. Die Autorin argumentiert dabei entschieden, aber nicht verbissen. Will nicht umerziehen, sondern die Hand reichen. Ganz im Sinne des Titels, durch die Zärtlichkeit in die Freiheit.

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