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Auch während der Oster- und Pessachtage ging der russische Beschuss von Charkiw weiter. Hier Trümmer im Nordosten der Stadt.

© Alex Chan/dpa

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (23): Käsekuchen in der Myronositska

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er, wie er den Krieg in der Ukraine verfolgt.

18. März 2022

„Und Du, was hast du in den letzten Wochen getrieben?“, fragt meine Schwester bei unserem Telefonat. Heute ist ihr Geburtstag, wir haben uns lange nicht gesprochen. Diese Frage scheint mir gerade schwieriger, als man denken könnte. Es passiert so viel, manchmal habe ich das Gefühl, es sind Jahre gewesen, nicht Wochen.

Was habe ich denn getrieben? Einige Lesungen gehabt, mit der Band geprobt, ein paar Konzerte gespielt, an die ukrainische Armee gespendet, drei Kartons mit Zeug, das unsere Soldaten gerade dringend brauchen, in den Osten des Landes geschickt, neue Songs aufgenommen, neue Texte geschrieben. Und ich bin stolz, ihren Geburtstag nicht vergessen zu haben, wie es mit Ostern und Pessach der Fall ist. Ich habe mich sehr gewundert, dass die Supermärkte bereits am Freitag plötzlich geschlossen waren. Und ich habe versprochen, am Wochenende unsere Mutter in Potsdam zu besuchen.

Auch die Markthalle im Zentrum von Charkiw wurde getroffen

Als ich in der S- Bahn sitze, schreibt mir Andrij, der sich seit Wochen für ukrainische Flüchtlinge engagiert. Er habe für den kommenden Dienstag einen Termin im Sozialamt bekommen für eine Familie aus Mykolajiw, die er betreut. Als er sie angerufen hat, meinten sie, sie können am Dienstag leider nicht, denn sie hätten bereits einen anderen Termin zugesagt. Ihnen habe jemand eine kostenlose Führung angeboten. „Wo geht’s hin?“, fragte Andrij. „Nach Sachsenhausen“.

Nach der Emigration meiner Familie im Jahr 1995 ist meine Mutter vor acht Monaten nach einer sehr langen Pause wieder in Charkiw gewesen. Ich war auch in der Stadt, um mit Serhij Zhadan am Album „Foxtroty“ zu arbeiten. Meine Mutter und ich gingen in ein winziges Café in der Myronositska Straße im Zentrum, es war der 13. September. Die Stadt habe ihr gut gefallen, berichtete sie mir bei einem Cappuccino und einem Stück Käsekuchen.

„So viele hübsche junge Leute auf den Straßen, und ich finde es toll, wie sie sich anziehen!“, meinte meine Mutter, eine kreative Schneiderin, die immer sehr kritisch ist, wenn es um Kleidung geht. Wir hatten nur eine Stunde, um uns auszutauschen. Es war warm und sonnig. Ich überlegte kurz, ob wir zum Sumskyi Rynok laufen sollten – eine schicke Markthalle, wo ich bei jedem Charkiw-Besuch fast täglich vorbeischaue, um mir beim georgischen Bäcker das überbackene Käsebrot Chatschapuri zu kaufen. Aber die Zeit war zu knapp.

Der Charkiw-Architekturführer von Yuriy Gurzhys Mutter.
Der Charkiw-Architekturführer von Yuriy Gurzhys Mutter.

© privat

Der Weg nach Potsdam ist lang. Der Zug bleibt länger am Bahnhof Wannsee stehen. Aus dem Fenster kann man festlich gekleidete Menschen sehen, die wahrscheinlich für einen See-Spaziergang hergekommen sind. Doch ich schaue nicht hin, sondern lese die Nachrichten. Im Zentrum Charkiws wurde gerade wieder bombardiert, auch in der Myronositska. Ich erkenne ein Haus auf einem der Fotos, dort wohnt der Vater einer guten alten Freundin. Sie ist vor sechs Jahren nach Recklinghausen gezogen und erzählte mir neulich, dass sie täglich mit ihren Eltern telefoniert.

Sie will, dass sie zu ihr nach Deutschland kommen, sie wäre bereit, das Ganze zu organisieren, aber die beiden sind stur. Sie sind über 80 und würden die lange Reise nicht überstehen, behaupten sie. „Wir sind unter den Bomben geboren, wenn wir auch unter den Bomben sterben sollen, dann sei es so“, sagte ihr der Vater. Ich glaube, von ihr gehört zu haben, dass er nach Kriegsbeginn in die Wohnung seiner Frau gezogen ist. Ich hoffe, es stimmt. Bei der Bombardierung wurde auch die Markthalle getroffen, lese ich. Scheiße.

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Meine Mutter zeigt mir ein Fotoalbum, das sie vor ein paar Tagen in ihrem Bücherschrank gefunden hat. „Charkiw. Architektur, Denkmäler“. Sie weiß nicht mehr, ob es ihr jemand geschenkt hat oder wir es nach Deutschland mitgebracht haben. Es ist kein besonders hübsches Album, die Fotos sind nicht die besten, auch die Druckqualität ist niedrig, doch ist es heute, 36 Jahre nach seiner Veröffentlichung, sehr wertvoll. Wenn wir die Seiten durchblättern, sehen wir die Stadt, die wir nie wieder so erleben werden, wie sie auf diesen Bildern zu sehen ist.

Lesen Sie hier weitere Teile des Tagebuches:

Yuriy Gurzhy

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