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Ein Solitär. Benedict Wells, 37.

© Jens Kalaene/dpa

Weise, wehmütig und humorvoll: Mit „Hard Land“ gelingt Benedict Wells ein großer Coming of Age-Roman

Benedict Wells ist einer der Stars der deutschen Gegenwartsliteratur. Sein neuer Roman „Hard Land“ ist eine wundervolle Liebeserklärung an die Jugend.

In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist Benedict Wells ein Solitär. Nicht nur, dass der 37-Jährige kein Leipziger oder Hildesheimer Literaturabsolvent ist: Weil er von Jugend an einfach nur schreiben wollte, verzichtete er darauf, überhaupt zu studieren.

Wells brachte sich alles Wichtige selbst bei und schrieb schon in seinen Zwanzigern Romane, die genauso anspruchsvoll und publikumswirksam sind wie die seiner angloamerikanischen Vorbilder, darunter John Irving, Nick Hornby oder J. D. Salinger. Fast folgerichtig erschien es, als er mit seinem vierten Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ 2016 einen Weltbestseller landete.

Beim Lesen seines neuen Romans fühlt man sich häufig an Stephen King erinnert. Denn wie in vielen King-Werken muss in Wells’ neuem Roman „Hard Land“ ein jugendlicher Außenseiter in einem amerikanischen Provinzkaff erwachsen werden. Es geht um Freundschaft, erste Liebe und Tod. Den Horror gibt es bei Wells auch, nur hat der nichts Übernatürliches: Die Mutter des Protagonisten leidet an einem Gehirntumor.

Wells Ich-Erzähler heißt Sam Turner und steht zu Beginn des 1985 spielenden Romans kurz vor seinem 16. Geburtstag. Das schmächtige Kerlchen gilt in der Schule als „ziemlicher Freak“, nicht zuletzt, weil Sam sich vor „wirklich jedem Mist“ fürchtet, am meisten natürlich davor, dass seine Mutter, seine einzige Bezugsperson, sterben könnte. Und er dann mit seinem düster vor sich hin brütenden, arbeitslosen Vater allein wäre.

In dunklen Momenten verzieht sich der introvertierte Junge zum Grübeln auf den Friedhof. Rechtzeitig zu Beginn der Sommerferien tritt Sam die Flucht nach vorn an. Das örtliche Kino braucht eine neue Aushilfe. Seine drei Kollegen dort haben die Highschool gerade absolviert und nehmen Sam unter ihre Fittiche. Denn wie sich zeigt, sind auch sie Außenseiter: Der Hüne Brandon ist zwar der Football-Star der Highschool, aber schwarz und hat dazu noch früh seine Mutter verloren; der Filmfreak Cameron ist schwul, was aber seine Eltern noch nicht wissen.

Der Roman umschifft alle Kitschgefahren

Und dann ist da die Leseratte Kirstie mit der entzückenden Zahnlücke. Für den rasch hoffnungslos verliebten Sam ist das ältere Mädchen der „Inbegriff von süßsaurem Popcorn“: Aus lauter Unsicherheit wirft sich Kirstie Jungs an den Hals, mag aber am liebsten Menschen, die nicht gleich alles von sich preisgeben.

In ihrem Notizbuch notiert sie Romananfänge und findet nebenbei ein Wort für jenen Gefühlsmix, der nicht nur, aber vor allem die Teenagerjahre prägt: Euphancholie. „Einerseits zerreißt's dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird. Dass alles mal vorbei sein wird.“

Besser kann man die Stimmung dieses wunderbaren, alle Kitschgefahren gekonnt umschiffenden Romans wohl nicht beschreiben. Denn der „schönste und schrecklichste Sommer“ in Sams Leben, mit bekenntnishaften Gesprächen auf dem Kinodach, Mutproben am „Lake Virgin“ oder rauschhaften Fahrten mit dem „BruceMobil“ zu Springsteen-Songs durch Roggenfelder, birgt zwar das Versprechen von Neuem und lässt ihn sich „übermütig und wach und mittendrin und unsterblich“ fühlen.

Doch zugleich ist alles auf Abschied eingestellt. Sams neue Freunde werden am Ende der Ferien an ihre Colleges an der Ost- oder Westküste gehen, selbst die flatterhafte Kirstie. Die Tage des Kinos sind gezählt. Und auch die von Grady, so der Name dieses fiktiven Kaffs in Missouri, seit die örtliche Textilfirma der Globalisierung zum Opfer fiel.

„Hard Land“ ist voller Anspielungen und Referenzen

Mehr soll nicht verraten werden; wichtiger wäre es herauszufinden, wie Benedict Wells es schafft, diesen klug komponierten Roman, der seine Leser:innen durch alle Höhen und Tiefen des Lebens gehen lässt, so zeitlos wirken zu lassen. Wüsste man es nicht, man könnte „Hard Land“ glatt für einen jahrzehntealten Klassiker der Coming-of-Age-Literatur halten.

Ein wenig liegt es sicher daran, dass Wells den Roman in jenem Jahrzehnt spielen lässt, in dem es zwar schon MTV und „Star Wars“ gab, aber kein iPhone oder Facebook, und dessen Erinnerungs- und Emotionspotenzial auch Netflix-Serien wie „Stranger Things“ oder „Dark“ ausloten.

„Hard Land“ ist voller Anspielungen und Referenzen, von Billy Idol bis „Zurück in die Zukunft“, von Michael Jackson bis „American Graffiti“. Die raffinierteste Zutat ist aber fiktiv: „Hard Land“, ein allen Schüler:innen an der Grady-Highschool vorgesetzter Gedichtzyklus vom berühmtesten Sohn der Stadt, einem Dichter namens William J. Morris, einem grandiosen „Abschreiber“, wie es heißt. Dieses Werk handelt von Gradys „49 Geheimnissen“ und davon, wie ein Junge „einen See überquert und als Mann wiederkommt“.

[Benedict Wells: Hard Land. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2021. 352 Seiten, 24 €.]

Das fiktive „Hard Land“ bietet Wells die Möglichkeit, die Coming-of-Age-Thematik in den 49 Kapiteln seines Romans noch einmal reflexiv einzuholen. Und dabei so schön formulierte Einsichten einzuschmuggeln wie „Kind sein ist wie einen Ball hochwerfen, / Erwachsenwerden ist, wenn er wieder herunterfällt.“ Auch sonst ist Wells’ Roman ein Buch voller Lebensweisheit, Menschlichkeit und Humor, der verrät, warum man nie zu früh von einer Party abhauen darf oder was Schulfreundschaften mit denen im Knast verbindet.

Vor allem aber ist „Hard Land“ eine Art multiple Liebeserklärung: an die Zeit der Jugend, da einem das Leben so lebendig wie nie vorkommt, weil man alles ungefiltert erleben darf. An das Kino, von dem niemand weiß, ob es Corona überstehen wird. An die Literatur des Erwachsenwerdens natürlich, aber auch an das oft und gerade in jungen Jahren gern übersehene Glück der Heimat.

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