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Vielfältige Einfalt. Tom Hanks in "Forrest Gump", der wohl berühmteste Dussel überhaupt.

© picture-alliance

Von norwegischem Ausnahmeautor: „Die Vögel“ erkundet das reiche Innenleben eines Dussels

Tarjei Vesaas galt er als eines der wichtigsten Autoren Norwegens, geriet aber nach seinem Tod in Vergessenheit. Nun erscheint sein zweiter Roman auf Deutsch.

Der norwegische Schriftsteller Tarjei Vesaas gehörte mit Knut Hamsun zu den wichtigsten Autoren seines Landes, wurde häufig gehandelt für den Literaturnobelpreis und verschwand nach seinem Tod 1970 sang- und klanglos und ohne Grund in den Ludergruben der Literatur. Aus denen wird er nun endlich dank des Guggolz Verlags geborgen.

Schon letztes Jahr erschien das „Eis- Schloss“. Und demonstrierte, wie großartig Vesaas es versteht, Drama, Leidenschaft, Einsamkeit und Verzweiflung in einer strengen und genauen, pathosfreien Sprache zu erzählen. Ohne dem emotionalen Aufruhr seiner Protagonisten die Glut zu nehmen.

Auch in dem wieder glänzend von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzten Roman „Die Vögel“ begibt sich Vesaas auf die Reise in den Kopf seines Protagonisten, eines einfältigen Mannes, den sie Dussel nennen im Dorf. Vesaas schildert ihn als einen höchst vielfältigen Charakter.

Mattis lebt mit seiner Schwester Hege am Rande des Dorfes. Sie ist 40, er etwas jünger. Sie strickt im Akkord Pullover, um ihren Unterhalt für den Bruder und sich zu verdienen. Er arbeitet nicht. Er kann nicht arbeiten. Er hat es versucht. Hat sich über Ackerfurchen gebeugt und sich ehrlich angestrengt, die Aufgabe zu bewältigen, die man ihm gegeben hat: Unkraut zu jäten.

Aber wenn Mattis sich konzentriert, laufen die Gedanken durcheinander, verkletten sich und führen ihn weit weg von Acker und Unkraut. Sodass er am Ende die Pflänzchen ausreißt und stehen lässt, was weg soll.

Sehnsucht nach Mädchen

Mattis kann anderes: den Schnepfenflug hören, wenn die Vögel nächtens übers Haus fliegen. Er ist ergriffen, tief bewegt und denkt aus vollem Herzen „Die Schnepfe und ich.“ Jetzt wird gewiss alles anders, er wird anders. Er träumt von sich mit Bizeps und von Mädchen. Er hat so viel Sehnsucht nach Mädchen in sich.

Als er der Schwester begeistert von den Schnepfen erzählt und sie dafür aus dem Schlaf reißt, schickt sie ihn grantelnd weg. Sie muss funktionieren in der Welt. Er weiß gar nicht, was das bedeutet. Sie liebt ihn, er dauert sie – aber sie erträgt das Leben nur schwer. Immer nur Verantwortung, immer so viel sinnleeres Gerede dieses Bruders.

[Tarjei Vesaas: Die Vögel. Roman Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel Guggolz Verlag, Berlin 2020. 276 Seiten, 23 €.]

Und merkt gar nicht, mit welch lichter Intuition Mattis die Welt sieht, Stimmungen, Regungen erspürt, die anderen verborgen bleiben, mit welcher Intuition er Glück und Gefahren erkennt und begreift, was elementar ist im Leben. Du bist nie anders als du bist, wirft er ihr einmal an den Kopf. Du kannst da nicht mit.

Man versteht genau, was er meint. Diese Anklage gegen festgefahrenes Denken, gegen die Unbeweglichkeit im Kopf und im Fühlen. Was hilft die Vernunft, wenn man alles, was jenseits geschieht, dabei verpasst. Wer ist nun einfältig. Matti oder Hege, also wir anderen?

Vesaas beschreibt den jungen Mann höchst intensiv

Eines Tages schlägt Hege ihm vor, doch Fährmann zu werden und Menschen über den See zu rudern. Denn Mattis ist ein guter Ruderer. Zwar will kein Mensch je über diesen See transportiert werden, aber er ist glücklich, nun Arbeit zu haben. Jeden Tag fährt er unverdrossen in seinem morschen Boot auf dem See hin und her.

Vesaas gelingt es, sich tastend einzunisten in den Kopf des Dussels. Ihn in seiner Weite und seiner Beschränktheit zu zeigen. In seinem Anderssein. Er beschreibt diesen Jungen, der ja schon ein Mann ist, höchst intensiv: Wenn Mattis traurig ist, dann ist er Traurigkeit.

Wenn er ängstlich ist, dann ist er Angst. Wenn er sich freut, dann ist er Freude. Manchmal sagt er nur halbe Sätze, die unsicher in der Luft hängen. Aber dank Vesaas' Erzählkunst verstehen wir ihn, können ihm folgen, ahnen den Weg, den die Worte nehmen durch den Tumult seines Kopfes.

Eines Tages hat Mattis tatsächlich einen Fahrgast. Einen Holzfäller auf der Suche nach Arbeit. Mattis lädt ihn ein, doch vorläufig bei Hege und ihm zu wohnen – und holt sich damit das Unglück ins Haus. Denn Hege und der Mann finden Gefallen aneinander. Und Mattis versinkt in der Angst, von ihnen allein gelassen zu werden. Was soll dann aus ihm werden. Er weiß genau, dass er allein nicht leben kann. Nun gärt und tost Panik in ihm, und Mattis beginnt, einen schrecklichen, einen todtraurigen Plan zu schmieden.

All das ist mit einer so feinen Klugheit erzählt, dass man nach der Lektüre dieses ergreifenden Buches zwar mitgenommen, aber auch sehr dankbar ist.

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