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"Vier Leben": Die Seelenwanderer

Kalabrische Meditation: Michelangelo Frammartino und sein grandioses Filmpoem „Vier Leben“.

Die alte Landkarte mit dem süditalienischen Stiefel liegt ausgebreitet auf dem Cafétisch im Berliner Literaturhaus – und Michelangelo Frammartino, eingeladen, mit dem Kugelschreiber das eine oder andere Kringelchen zu machen, stürzt sich sogleich mit Feuereifer drauf. „Hier, in Caulonia, haben wir die Passagen mit dem Ziegenhirten und der Ziege gedreht, und hier in Serra San Bruno“ – Kringelchen ganz in der Nähe – „die Szenen mit dem Kohlenmeiler.“ Und schon saust der Stift ein ordentliches Stück weg von der Stiefelspitze: „Die Episode mit dem Baum, das war in Alessandria del Carretto, hoch im Gebirge an der Grenze zur Basilicata.“

Kalabrien, das ist die ferne Heimat des in Mailand geborenen, aufgewachsenen und erst zum Architekten, dann zum Filmemacher ausgebildeten Michelangelo Frammartino. Es ist die Heimat seiner Eltern, die 1963, fünf Jahre vor seiner Geburt, in den Norden kamen, gerufen wie Gastarbeiter, und der Vater heuerte bei Alfa Romeo am Band an. Aber vor allem ist es Michelangelo Frammartinos eigene Heimat, in die er jeden Sommer zu den Großeltern entfloh, weg aus städtischer Enge hinaus in eine Welt, in der es wenig Unterschied zwischen außen und innen gab. „Kalabrien, das war Freiheit für mich, immer“, sagt Frammartino, und seine Augen leuchten. Und: „In dem Zimmer, in dem wir in Caulonia gedreht haben, ist meine Mutter geboren.“

Im Film ist das Zimmer ein karger Raum: Schrank, Anrichte, an der Wand drei Stühle, die dem Ziegenhirten als Ablage und Nachttisch dienen, und im dunkelsten Winkel das schmale Bett. In diesem Bett stirbt der alte Hirte eines helllichten Tages, und ein kurioses Wunder macht, dass allerlei Tiere seiner Herde durch die Holztür eingedrungen sind und nun herumstehen in Küche und Kammer. Der Hirte stirbt im Dämmerschlaf, er atmet sein Leben aus. Das letzte, unscharfe Bild, das seine Augen in diesem Diesseits sehen, ist der Kopf eines seiner Tiere.

Dann tönt es dumpf und die Leinwand wird schwarz, wie sie zwischen den vier Episoden dieses Films immer schwarz wird für Sekunden und Töne sammelt von der einen Welt in die nächste: die Schaufelschläge der Köhler auf dem Kohlenmeiler, das gedämpfte Ziegenblöken, das durch eine Grabkammerplatte dringt und später das Schmelzwasser, das die mächtige Tanne im Gebirge nährt. Oder war es der Wind?

„Vier Leben“ hat der deutsche Verleih dieses einzigartige Werk genannt, das einen ethnografischen Dokumentarfilm im Spielfilm enthält und umgekehrt – dabei wusste Frammartino genau, warum er ihm den Titel „Le quattro volte“ (Die vier Male) gab. Nicht vier Leben sind es, die feinsäuberlich hintereinanderweg besichtigt werden – der Hirte, das Zicklein, der Baum, die Holzkohle –, sondern es ist ein einziges Leben, das in vier Formen wiederkehrt: menschlich, tierisch, pflanzlich, mineralisch. Der Hirte mag sterben, aber was, wenn augenblicklich ein Zicklein geboren wird?

Von solch einem ununterbrechbaren Lebenskreislauf erzählt „Vier Leben“, wenn man so will: von Seelenwanderung. Und er tut es nicht mit pathetischer Geste und dräuendem Voice Over, wie sie zuletzt Terrence Malick in „The Tree of Life“ intonierte, sondern sinnlich, konkret, wunderbar wach den Geräuschen der Natur lauschend. Der Film ist insofern stumm, als in ihm nicht gesprochen wird; und wenn denn doch, manchmal, menschliche Stimmen zu hören sind, dann sind sie nur Bestandteil eines großartig aufgenommenen Konzerts der Natur. Irgendwann meint man, das Krabbeln der Ameisen auf alter Menschen- oder Baumhaut zu hören.

Also: Transzendenz, Philosophie, schamanischer Überbau. Mit anderen Worten: Pythagoras. „Auf Pythagoras und seine Philosophie bin ich ganz zufällig gestoßen“, sagt Michelangelo Frammartino an jenem Mittag in Berlin. Ein Satz bei Dante, wonach Pythagoras überzeugt gewesen sei, dass alle Seelen dieselbe Würde haben; eine weitere Spur zu dem Vorsokratiker in „Le mimétisme animal“ des Soziologen Roger Callois, der die Vision einer total fusionierten Welt begründete. Und natürlich das Wissen, dass Pythagoras im 6. Jahrhundert vor Christus nach Süditalien einwanderte und mit 40 in Kroton – Frammartino schreibt auf der Landkarte neben der Küstenstadt Crotone „„PITAGORA“ ins Meer – seine Schule der Pythagoreer gründete. Liegt Crotone nicht zudem recht dicht bei Frammartinos Familienheimat Caulonia, ein knappes Autostündchen weiter nördlich am Ionischen Meer? Und hatte nicht Pythagoras jahrelang als Schatten hinter einem Vorhang gelehrt, bloße Stimme hinter der Leinwand – Stimme wie die vielen Stimmen in Frammartinos Film?

Sanft hineingeschlittert ist Michelangelo Frammartino in diese Gedankenwelt, die sich in „Vier Leben“ souverän und gänzlich unakademisch erschließt. Religiöse Prägungen? Im Gegenteil, der Vater war Kommunist. Und als die erzkatholische Großmutter mütterlicherseits ihn bei einem seiner Sommerbesuche, da war er acht, heimlich taufen lassen wollte, da schwante ihm rechtzeitig Übersinnliches. „Ich bin mit einigem Sarkasmus gegenüber dem Glauben aufgewachsen“, sagt der Regisseur. „Zur Spiritualität, zum Unsichtbaren, bin ich viel später gekommen, über die Kunst.“ Und zum Thema seines Films? Durch Zufälle. Nach seinem bereits in Kalabrien gedrehten No-Budget-Erstling „Il Dono“ drängten ihn Freunde: Du musst die Köhler von Serra sehen, es sind fast die letzten ihres Berufs in Süditalien! Du musst zum Baumfest in Alessandria! Dreh dies, dreh das! „Und dann bin ich aus Höflichkeit, ich hatte den Sonntag frei, einfach mal mitgefahren.“

So kann’s gehen. Und so ist der Zuschauer beim Baumfest in Alessandria dabei, auf der Bergweide und auch einmal mit dem Ziegenhirten in der Sakristei von Caulonia, wo die Kirchendienerin ein bisschen heiligen Staub frisch von der Kehrschaufel abpackt. Und er sieht und hört, wie aus Zweigen und Stroh und schwarzem Kies der Kohlenmeiler geformt wird, in dessen Innerem die schweren Stämme sich glimmend in Holzkohle verwandeln. Alles bedeutet alles und wiegt zugleich nahezu nichts. Alles ist zugleich heiter und traurig und groß und klein. Und nach einer knappen halben Stunde jener 80 Minuten, die mal eben von der Unendlichkeit erzählen, gibt es eine acht Minuten lange Einstellung, so aberwitzig und alltäglich, so was hat das gute alte Kino noch nie gesehen.

Filmkunst 66, Filmtheater am Friedrichshain, Kino i. der Kulturbrauerei, Neues Off

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