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Die „Annunziata“ von Antonello da Messina, Palazzo Abatellis, Palermo.

© mauritius images

Trost in Corona-Zeiten: Ein Renaissance-Maler wird zum Social-Media-Hit

Antonello da Messinas Bilder spenden Kraft und schenken Würde. Das braucht es in diesen Tagen.

Es fühlt sich wie ein Zeichen an, ein Wunder. Antonello da Messina, ein Maler der frühen italienischen Renaissance, berührt die Menschen in der Pandemie. Es sind vor allem Antonellos Blaue Madonna, die Jungfrau der Verkündigung, und der Heilige Hieronymus im Gehäus, die in diesen Monaten der Abschottung Kraft und Schönheit offenbaren. Zwei sehr unterschiedliche Covid-Projektionen, zwei Gestalten in extremer splendid isolation überspringen die Jahrhunderte. Beide sitzen vor einem Buch, und wenn Malerei eine tiefe Stille erfasst, dann hier.

In dieser Kunst lösen sich Zeiten auf und werden neu verknüpft. Man betrachtet sie jetzt aus einer eigenen Perspektive, mit einem Wissen und Bewusstsein, das auf den Entwicklungen der Renaissance basiert, aber natürlich ein ganz anderes ist. Diese Bilder scheinen über ihren Horizont hinauszublicken.

Die Renaissance, alles in allem, war eine Epoche der Umwälzungen und wirkt vielfach wie eine Parallelgeschichte zu unserer Zeit. Die Welt damals erlebt eine mächtige Welle der Globalisierung. Die Pest überzieht den Kontinent von Süd nach Nord. Der Buchdruck schafft eine technisch-kulturelle Revolution wie das Internet. Optische Gläser ermöglichen ein neues astronomisches Weltbild und verändern den Blick der Menschen auf sich selbst: vom Spiegel, der sich als Alltagsgegenstand etabliert, zum Selfie. Künstler werden in der Renaissance erstmals als Künstler anerkannt, nicht mehr nur als Handwerker und Dienstleister.

Wenig ist bekannt von Antonellos Leben

Der Heilige Hieronymus sitzt in der Studierstube und liest. Historisch ist der Kirchenvater im 4. Jahrhundert anzusiedeln, im heutigen Syrien. Bei Antonello begegnet uns, wie auf vielen anderen Darstellungen des Gelehrten, der freie Renaissance-Geist par excellence. Er behauptet seinen Arbeitsplatz, der in dem Bild wie eine Bühne auf einer größeren Bühne wirkt. Innenwelt und Außenwelt.

Sein Home ist sein Office, und das Office ist für den stolzen Asketen sein Gehäuse. Der einzige Kontakt nach draußen besteht in der Lektüre – die wiederum nach innen führt. Vor dem Betreten dieses heiligen Refugiums hat er die Sandalen ausgezogen. Selbst seine Tiere müssen draußen bleiben, auch der Löwe: Der kam der Legende nach mit einer verletzten Pranke zu Hieronymus in die Höhle. Der Mönch zog der mächtigen Raubkatze den Dorn aus dem Fleisch, der Löwe blieb im Haus, dankbar. Was an die vielen neuen Haustiere in der Pandemie denken lässt.

1430 in Messina geboren, 1479 in Messina gestorben. Wenig ist bekannt von Antonellos Leben. Entscheidend sollen für ihn zwei Aufenthalte außerhalb Siziliens gewesen sein. In Neapel machte er sich mit der neuen Malschule des Nordens bekannt, mit der Ölmalerei und der Porträttechnik eines Jan van Eyck. In Venedig muss er dann eine sagenhaft kreative Phase erlebt haben, wenige Jahre vor seinem Tod. Im Museo Correr am Markusplatz befindet sich Antonellos Pietà mit den drei Engeln und dem toten Christus. Noch verstärkt durch Beschädigungen und unsachgemäße Restaurierung, bietet sich ein Bild endlosen Jammers. An Auferstehung, an das Osterwunder denkt man vor dieser tief berührenden Szenerie zuletzt.

In der Verwandtschaft und Verwandlung liegt ein starker Trost

Antonellos „Saint Jerome“ gehört zu den Kostbarkeiten der National Gallery London. Auf Instagram ist er in den vergangenen zwölf Monaten immer wieder aufgetaucht – Sinnbild der Quarantäne und des Shutdowns. In den sozialen Medien fanden sich Posts, auf denen Menschen in der heimischen Wohnwelt berühmte Kunstwerke nachstellten, von Magritte zu Vermeer, von Picasso zu Warhol. Mit #tussenkunstenquarantaine gelangten unglaubliche Anverwandlungen ins Netz.

Einmal war der junge Mann mit den dunklen Locken, Antonellos Porträt aus dem Museum Thyssen-Bornemisza in Madrid, mit einem Mundschutz zu sehen, ein andermal hatte das Männerporträt einen Covid-Bart bekommen. Antonellos Gesichter drücken stets, in ihrem ganzen Stolz, eine Skepsis aus. Aber das kommt nicht von oben herab, sondern betrifft den Dargestellten selbst. Womöglich handelt es sich um einen ironischen Spiegelblick – wir wissen nicht, wer diese Bürger waren, wie sie hießen, woher sie stammten. Wir sehen nur, wie erstaunlich ähnlich sie uns sind. In dieser Verwandtschaft und Verwandlung liegt ein starker Trost.

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Und immer wieder war in den sozialen Netzwerken eine für die Covid-Kommunikation bearbeitete Annunziata zu sehen. Mit Maske und mit Schutzhandschuhen schien die Blaue Madonna die Arbeit eine Krankenschwester auf einer Intensivstation übernommen zu haben. So hat sie die feministische Künstlerin Ines Tolestino aus Santo Domingo dargestellt. Als Schutzengel der Kranken und Sterbenden. Im Pariser Marais-Viertel stellte sie ein Street-Art-Künstler auf einem Graffito als Schutzmantelmadonna dar. Ihr Kopftuch breitet sie da über afrikanischen Geflüchteten aus, unter die sich der Rechtsaußenpolitiker und frühere italienische Innenminister Matteo Salvini mit einem diabolischen Grinsen mischt.

Das Revolutionäre des Portraits

Antonellos ikonisches Bild der „Verkündigung“ hängt im Palazzo Abatellis in Palermo und ist mit 45 x 34,5 cm recht klein. Zum Vergleich: Das berühmteste Frauenportrait der Renaissancewelt, Leonardos Mona Lisa, misst 77 x 53 cm. Über die Identität der jungen Frau, die Antonello um das Jahr 1475 als Modell nahm, gibt es nur Spekulationen. Sie könnte aus einer noblen sizilianischen Familie stammen, das Bild wurde im 19. Jahrhundert als ein „Dürer“ gehandelt. Ihr ovales Gesicht steckt unter einem himmelblauen Tuch, ein Meer von Blau. Der Hintergrund ist schwarz. Vor ihr liegt ein aufgeschlagenes Buch. Die linke Hand hält das Tuch vor der Brust zusammen, deren Ansatz zu sehen ist, die rechte Hand vollführt eine Geste der Abwehr? Sie ist jung. Sie ist schön. Ihr Mund zieht, wie oft bei Antonello, den Blick auf sich.

Sie wirkt konzentriert. Sie weiß nicht, wie ihr geschieht, oder sie weiß es sehr genau. Darin liegt das Revolutionäre des Portraits: Der Bote ist nicht im Bild. Die Jungfrau der Verkündigung erwartet den Erzengel Gabriel noch – oder er ist schon wieder fortgegangen und lässt sie mit der unglaublichen Nachricht, dass sie den Sohn Gottes gebären soll, allein. Oder soll sie aus der Schrift erfahren, aus dem Buch vor ihr, dass sie jungfräulich eine Gottesmutter werden soll?

Jede dieser Möglichkeiten ist übergriffig. Die junge Frau senkt den Blick leicht nach unten. Lässt sich das Schicksal abwenden? Gäbe es einen anderen Verlauf der Geschichte als den ewigen Leidensweg mit unberührter Mutterschaft, Heiligem Geist, Christus und Golgatha, Blut und Kreuz? Was geht vor im Kopf der Frau? Wie die meisten Religionen greift das Christentum nach den Frauen, bemächtigt sich der Sexualität, zumal der weiblichen. „Die Religionen, insbesondere die Monotheismen, sind eine Enteignung des Körpers“, konstatiert der mit verzerrten Aktbildern konfrontierte Muslim Kamel Daoud in dem Buch „Meine Nacht im Picasso-Museum“.

Homeoffice in der Renaissance. Da Messinas „heiliger Hieronymus im Gehäus“ aus der National Gallery London.
Homeoffice in der Renaissance. Da Messinas „heiliger Hieronymus im Gehäus“ aus der National Gallery London.

© mauritius images / SuperStock

Der Maler gibt Luft zum Atmen und Zeit

Es bleibt im Dunkeln, was sie da liest, was geschrieben steht in ihrem Buch. Im Lukas-Evangelium wird der Moment so dargestellt: „Der Engel trat bei ihr ein und sagte: Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir. Sie erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe. Da sagte der Engel zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast bei Gott Gnade gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn wirst du gebären; dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden.“

Und als Maria fragt, wie das geschehen solle, da sie keinen Mann erkenne, antwortet der Engel: „Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.“

Unbefleckte Empfängnis, Gegenstück zur Erbsünde. Gefeiert wird dieses verschleierte Ereignis am 25. März, in Osternähe. Ein Schatten über dem Körper der Frau. So steht es in dem Evangelium, das aber erst Jahrzehnte nach Christi Tod entstand und redigiert wurde. Jener Lukas, wo immer er herkam, war kein Augenzeuge der Christusgeschichte, und es ist klar, dass die junge Frau auf dem Bild von Antonello den Bibeltext nicht vor Augen haben konnte. Es gab ihn noch nicht. Warum ich? Das darf sie sich fragen. Der Maler gibt ihr Luft zum Atmen und Zeit, nachzudenken. Ihre linke Gesichtshälfte ist leicht verschattet, die rechte Schulter dem Betrachter zugedreht. Es wäre in diesen gedehnten Augenblicken noch möglich, dass sie um Bedenkzeit bittet oder gar nicht einsteigt in die so folgenschwere göttliche, also männliche Erzählung.

Schlichten Eleganz und der ergreifende Einfachheit

Sonst steht bei diesem häufig gemalten Thema immer schon Gabriel im Bild, begleitet vom Heiligen Geist, ihr ist die Entscheidung von langer Hand abgenommen. Hier nicht. Es ist noch kein fait accompli. Oder stößt sie im Alten Testament auf die Prophezeiung: „Darum wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären.“ Aber in welcher Sprache würde sie das lesen, lesen können? Ein Bilderrätsel, wie das „Lächeln“ der Mona Lisa. In der griechischen Mythologie hat Maria in Kassandra eine ferne Verwandte, die ebenfalls unter göttlichen Einfluss gerät.

Apollo will Kassandra haben und schenkt ihr die übermenschliche Gabe, in die Zukunft zu schauen. Als sie sich dem Gott verweigert, wird über sie für alle Zeit eine furchtbare Strafe verhängt. Sie wird die Warnerin, sie könnte die Retterin Trojas sein, doch niemand glaubt ihr. Brutale Rache: Apollo macht sie zur Schwarzseherin, das hängt ihr bis heute an. Kassandra ist gezeichnet. Aber sie hatte die Kraft, nein zu sagen. Das Christentum räumt Maria diese Freiheit nicht ein.

„Die Insel Sizilien, Freundin der Leidenschaft und Feindin der Illusion“, schrieb der britische Schriftsteller und Künstler John Berger im Zusammenhang mit einer Kreuzigung von Antonello. So könnte man den Gedanken weiterspinnen und annehmen, dass die Verkündigungsgeschichte, die Ausübung von Wort-Gewalt, auf dem Bild von da Messina ins Reich der Illusion verwiesen wird. Die Gläubigen wiederum werden sagen, dass sie eben in dieser schlichten Eleganz und der ergreifenden Einfachheit der Szene, wie der Sizilianer sie gemalt hat, das Göttliche sehen.

Antonellos Werke sind über die Welt verstreut

Und rein motivisch betrachtet: Liegt in der Hand der jungen Frau nicht schon die segnende Hand des Jesus Christus? Antonello hat ihn als Mann brutaler Schmerzen, als Folteropfer portraitiert, mit Tränen im Gesicht und einem Ausdruck tiefsten Zweifels. Seine vielfachen Darstellungen der Kreuzigung zeigen eine außergewöhnliche Härte und Klarheit, die verstörend sein kann.

Antonellos Werke sind über die Welt verstreut. In der Dresdner Sammlung Alter Meister wartet sein Märtyrer Sebastian auf Besucher, in der Berliner Gemäldegalerie harren zwei Jungmänner-Porträts der Dinge. Der Palazzo Reale in Mailand veranstaltete 2019 eine überirdisch schöne Antonello-da-Messina-Ausstellung. Die Blaue Madonna war der Fluchtpunkt in der Galerie all der heiligen und gewöhnlichen Männer, darunter der Gekreuzigte voller Qualen und Wunden. Sogar Hieronymus hatte seine Studierstube in London verlassen und war zu dem seltenen Familientreffen nach Italien gereist. Mailand, Flugzeug, Hotel, Restaurants, Bars und Geschäfte und Museum, das klingt wie ein Traum aus fernen Tagen.

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