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Zugewuchert. Die 1944 kriegszerstörte und nie wieder aufgebaute Villa Hinderer in der Beymestraße 16 in Steglitz.

© Kitty Kleist-Heinrich

Sommerserie Berliner Ruinen (3): Schutt und Sühne

Warum Eigentümer ihre Häuser verfallen lassen, bleibt manchmal rätselhaft. Ein Beispiel ist die Villa Hinderer in Steglitz.

Ruinen sind sichtbar gewordene Zeit. Stolze Bauten und Lieblingsorte zerfallen, einstige Kostbarkeiten werden zu Schrott. Die Relikte der Vergangenheit entzünden die Fantasie. Gedächtniskirche, Anhalter Bahnhof: Berlin hat Ruinen als Wahrzeichen. Auch wenn die Stadt längst nicht mehr ruinös aussieht, hat der Zahn der Zeit Spuren hinterlassen. Unsere Sommerserie folgt ihnen.

Bevor wir damals einziehen konnten, mussten wir erst den Garten roden. Jahrelang hatte niemand mehr das Grundstück betreten, mannshoch standen die Ahornsprösslinge auf der einstigen Rasenfläche, der gepflasterte Weg vom Tor zur Eingangstür war unter Sand und Wildkräutern verschwunden, die Hecke so weit gewachsen, dass sie von ihrem Eigengewicht nach unten gebeugt wurde und fortan gen Boden wuchs. Nur wir Kinder fanden das klasse, denn wir konnten uns in der Mitte durchquetschen wie durch einen Laubengang.

Die Erbin glaubte an Gespenster

In den Zimmern würde es spuken, davon war die Erbin des Hauses fest überzeugt. Und zudem überschuldet. Schließlich wurde sie von ihrer Bank gezwungen, die verhexte Immobilie zu verkaufen. Meine Eltern griffen zu – und leben dort bis heute unbehelligt von weißen Damen oder Gespenstern mit rostiger Rasselkette.

Was dagegen die Eigentümerin des Friedenauer Mietshauses an der Ecke von Stubenrauch- und Odenwaldstraße dazu veranlasst, ihr Jugendstil-Schmuckstück verfallen zu lassen, ist nicht herauszubekommen. Denn sie spricht nicht mit der Anwohner:innen-Initiative, die dafür kämpft, dass hier, in einem der schönsten Berliner Kieze, wieder Leben einziehen kann.

Platz für 16 Familien wäre hier, doch nach den 13 Jahren, in denen das Berliner Klima unbehindert durch die zerborstenen Fensterscheiben eindringen konnte, besteht mittlerweile kaum noch Hoffnung, dass die Bausubstanz gerettet werden kann.

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Auf Hilfe von staatlicher Seite jedenfalls hofft die Bürgerinitiative bislang vergebens. Zu hoch sind die Hürden für Enteignungen. Was seinen guten Grund in der Erfahrung aus der Zeit des Nationalsozialismus hat, führt dazu, dass eben auch in Fällen von willkürlicher Wohnraumvernichtung den Behörden die Hände gebunden sind.

Noch viel länger als das Friedenauer Eckhaus verfällt die Villa Hinderer in Steglitz. Der Sprengel rund um die Klingsorstraße gehört zu den edelsten Wohnlagen des Bezirks, manches Schmuckstück aus Kaiserzeiten hat hier den Krieg überlebt und wird heute von seinen Bewohnern liebevoll gepflegt. Umso mehr überrascht es den Spaziergänger, wenn er unerwartet die Ruine in der Beymestraße entdeckt.

Tatsächlich ist das Haus nur noch ein hohler Zahn aus rotem Klinker, auf einem Gelände, das sich die Natur schon fast vollständig zurückerobert hat. Bis zur zweiten Etage ragen die Außenmauern mit den leeren Fensterhöhlen noch auf, die Bäume im Innern sind jedoch schon fast so hoch wie die im Garten.

Zutritt verboten. Die Eingangspforte.
Zutritt verboten. Die Eingangspforte.

© Kitty Kleist-Heinrich

Die gemauerten Pfeiler des Zauns sind mit Graffiti übersäht, nur noch der Rost scheint das prächtige Gitter zusammenzuhalten, ein typisches Jahrhundertwende-Modell mit metallenen Schnörkeln, gekrönt von stilisierten Pfeilspitzen. Wo einst die Klingel war, gähnt ein Loch, laienhaft ist die ehemalige Eingangspforte oben mit Stacheldraht umwickelt.

Zum Glück war niemand zuhause, als die Villa im Frühjahr 1944 bei einem Luftangriff getroffen wurde. Doch ihr Hab und Gut verlor die Familie Hinderer damals durch den Bombentreffer. August Hermann Hinderer war studierter Theologe und gehörte zu den angesehensten Publizisten der Weimarer Republik.

Den Nazis war Hinderer ein Dorn im Auge

Seit 1918 leitete er den Evangelischen Pressedienst (EPD), der seinen Sitz ebenfalls in der Beymestraße hatte, schräg gegenüber der Villa. 1927 wurde Hinderer Honorarprofessor für Publizistik an der Berliner Universität, er war Mitglied im Kulturbeirat des Deutschen Rundfunks, Beisitzer der staatlichen „Film Oberprüfstelle“ – und den Nazis ein Dorn im Auge.

Gleich 1933 wurde er seines Amtes enthoben, 1934 von der Gestapo verhaftet. Später durfte er zwar wieder arbeiten, bis zur Auflösung des EPD 1941, war aber in allen politischen Fragen zur „Neutralität“ verpflichtet. Im Oktober 1945 starb Hinderer in seiner schwäbischen Heimat.

Seine drei Kinder erbten die Ruine samt Filetgrundstück, doch laut der Enkelin und heutigen Eigentümerin war kein Geld da für einen Wiederaufbau. Was verwundert, wurde doch Sohn Fritz nach dem Krieg ein angesehener Astronom und zum Professor an der Freien Universität berufen. Er kümmerte sich immerhin um die Gartenpflege in der Beymestraße. Dort erlitt er 1991 beim Heckenschneiden einen Hirnschlag. Seitdem ist das Areal sich selbst überlassen.

Unbefugten ist das Betreten verboten

Zwanzig Meter misst die Straßenfront, weit nach hinten erstreckt sich der Garten, seine Ausdehnung lässt sich durch das Dickicht nur erahnen. Vom angrenzenden Grundstück, auf dem zwei schmucklose 50er-Jahre-Wohnblocks hintereinander gestaffelt sind, könnte man wohl Einblick nehmen, doch mahnen hier gleich zwei Schilder: „Unbefugten ist das Betreten verboten!“ Die Nachbarn haben wohl schlechte Erfahrungen mit Neugierigen gemacht. „Lost places“ zu erkunden, also verlorene Orte, ist seit einigen Jahren in Mode. Weil diese Ruinen äußerst „instagrammable“ sind, also attraktiv als Fotomotiv.

Nun könnte man mit Blick auf den verwunschen-überwucherten Villenrest sagen: Jedes zusätzliche Fleckchen Grün kann in einem Großstadtmoloch wie Berlin nicht schaden. Doch hier in diesem Steglitzer Sprengel haben alle Häuser eigene Gärten, außerdem ist der Stadtpark gleich um die Ecke.

Acht Familien könnten ein Zuhause finden

An Photosyntheseflächen mangelt es nun wirklich nicht in dieser Oase der Ruhe zwischen den brausenden Verkehrsadern von Albrecht- und Birkbuschstraße. Aber eben an Wohnraum. Die Neubauten in der Beymestraße sind bis zu vier Etagen hoch, mindestens acht Familien könnten also auf dem Ruinen-Grundstück ein neues Zuhause finden, wenn sich die Eigentümerin zum Verkauf entschließen würde.

Doch sie denkt gar nicht daran. Mit ein wenig Internetrecherche lässt sich die Dame zwar im fernen München ausfindig machen, und sie antwortet sogar auf eine Anfrage. In einer Whatsapp will sie wissen, wofür man sich im Zusammenhang mit der Villa Hinderer denn besonders interessiere: für die Natur, das Grundstück, die Geschichte des Gemäuers oder den Evangelischen Pressedienst?

Auf die Präzisierung, dass man gerne erfahren würde, wie sie sich die Zukunft der Ruine vorstelle und ob es nicht sinnvoll sei, den Platz für eine Baugruppe von Privatleuten freizumachen, die hier Kinderfreundliches neu entstehen lassen könne, bricht der gerade erst geknüpfte Kontakt sofort wieder ab.

Der Bezirk kann nichts tun

Von staatlicher Seite ist in dem Fall kein Handeln zu erwarten. Nein, sagt Bezirksbürgermeisterin Cerstin Richter-Kotowski im Gespräch, da können sie leider nichts tun. Weil nach der Bombardierung des Hauses eben kein Wiederaufbau erfolgte. „So ist auch kein schützenswerter Wohnraum entstanden, auf den das Gesetz zum Zweckentfremdungsverbot angewendet werden könnte.“

Nachdem sie die Tagesspiegel-Anfrage erreicht hatte, schickte die Bezirksbürgermeisterin sogar extra die Bauaufsicht los, um vor Ort nachzuschauen, ob eine Gefährdung der Sicherheit im öffentlichen Raum vorliegen könne. Doch die Ordnungsbehörde sieht keinen Handlungsbedarf. Weil das Grundstück korrekt von einem Zaun umschlossen und darum unzugänglich ist.

Mit Logik allein nicht zu fassen

Auf die Frage, ob es sie angesichts der Berliner Wohnraumsituation nicht wütend mache, wenn Grundstücke ohne nachvollziehbare Ursache brach liegen gelassen werden, antwortet Cerstin Richter-Kotowski fast philosophisch: „Ich habe lernen müssen, dass es Verhaltensweisen gibt, die mit Logik allein nicht zu fassen sind.“

Vögel zwitschern, Baumkronen rauschen, über das Kopfsteinpflaster der Beymestraße hoppelt ein einsames Auto. Während der Zaungast noch ein letztes Mal seinen Blick über den Urwaldgarten der Villa Hinderer schweifen lässt, geht ihm ein Gedanke nicht mehr aus dem Kopf: Wer ist eigentlich kaputter, die verfallenden Häuser oder ihre Eigentümer:innen?

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