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Späti am Bosporus. Pamuk auf nächtlicher Tour.

© Steidl Verlag/Orhan Pamuk

Schriftsteller zeigt die Seele seiner Stadt: Orhan Pamuk fotografierte jahrelang die Nächte in Istanbul

Der türkische Romancier stellt seine Fotografien nun bei der Lit:Potsdam aus. Manches davon wirkt wie aus einem Traum.

Die Nacht ist zum Schreiben da, zum Lieben und Wachen, zum Schlafen, wer weiß. Orhan Pamuk ist über Jahre nachts durch seine Stadt gezogen und hat die Menschen und die Leere und die relative Stille fotografiert.

Nach der Ermordung seines Freundes Hrant Dink, eines Journalisten, der an den Genozid an den Armeniern erinnert hatte, bekam Pamuk Personenschutz. Mit Bodyguard und Leica unternahm er ausgiebige Erkundungen Istanbuls. Er suchte auch Gegenden auf, die man sonst besser meidet.

Die Nocturnes sind beim Lit:Potsdam- Festival zum ersten Mal in Deutschland zu sehen und nur bis zum kommenden Sonntag. Es ist ja schon ein Geschenk, dass es überhaupt noch Kulturveranstaltungen gibt, und diese Ausstellung im Kunstraum Schiffbauergasse weitet noch einmal den Blick im Jahr der pandemischen Verengung.

Orhan Pamuk konnte nicht nach Potsdam kommen. Auch Gerhard Steidl, der die Bilderschau kuratiert und das schöne Buch dazu in seinem Verlag herausgebracht hat, verpasste die Vernissage, er sitzt nach Unwettern in seinem Schweizer Bergdomizil fest.

Istanbuls Nächte erscheinen orangefarben vom Licht der alten Lampen. Zusehends werden sie durch neue Lichtkörper ersetzt, die eine kalte, weiße Atmosphäre verstrahlen. Deutlich ist der Farbwechsel, der ein ganzes Zeitalter beendet, in einer Aufnahme mit hohem Schnee zu sehen. Das gelb-orange Licht wärmt selbst den Winter.

Abertausende Fotos hat er gemacht

Oft schaut man hier in ausgestorbene Gassen und Winkel, die Wände erzählen Geschichten, die Pamuk in seine Romane einschließt. Hin und wieder Menschen, eine Katze, ein paar Hunde. Die Fotografien hängen in Serien, Standbilder eines ungeschnittenen Films. Manches wirkt wie im Traum.

Orhan Pamuk studierte anfangs Malerei, das Fotografieren begleitet ihn seit jeher. Der Schriftsteller Joachim Sartorius sprach bei der Eröffnung der Ausstellung seines Freundes von „Orhan, dem Besessenen“. Abertausend Fotos habe er gemacht, um die Seele der Stadt festzuhalten, „Orhan, der leidenschaftliche Archivar“.

[„Orange“, Kunstraum Schiffbauergasse 4d, bis 9. 8., www.litpotsdam.de. Das Buch ist im Steidl Verlag erschienen, 190 S., 34 €]

Pamuks 2012 eingeweihtes „Museum der Unschuld“ in Istanbul, in dem die Dinge des gleichnamigen Romans einer manisch-romantischen Liebe sich materialisieren, zeigt noch einmal auf andere Weise den akribischen Sammler der sich verlierenden Zeit.

In früheren Publikationen hat Orhan Pamuk mit dem Fotografen Ara Güler zusammengearbeitet: Istanbul schwarzweiß, von 1940 bis in 80er Jahre. „Orange“ zeigt dieselbe Stadt und doch eine andere. Der Wandel ist augenfällig. Das Pamuk-Istanbul-Orange erinnert Joachim Sartorius an die Farbe „reifer Aprikosen“. Reife aber ist gerade nicht mehr Frische und lässt an Fäulnis schon denken.

Etwas ist im Vergehen auf Pamuks Fotografien. Ein Kind auf dem Fahrrad schaut sich um: Erkennt sich der Fotograf da in der Erinnerung selbst? Ein Frisör – man sieht ihn erst auf den zweiten Blick in seinem Laden – wartet auf Kundschaft, ob um diese späte Zeit noch einer kommt – oder er ist er zu müde für den Heimweg?

Im Vorwort zum Buch verweist Pamuk auf eine urbane Veränderung, die sich nicht so unmittelbar im Bild zeigt: den wachsenden Einfluss radikaler Islamisten und Nationalisten. Es liegt etwas in diesen Nachtstücken, das beunruhigt, eine kaum greifbare Irritation oder gar Bedrohung.

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