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Captain Kidd (Tom Hanks) und Johanna (Helena Zengel) legen 400 Meilen durch ein feindliches Land zurück.

© Bruce W. Talamon/Universal/Netflix

"Neues aus der Welt" auf Netflix: Helena Zengel stiehlt Tom Hanks die Show

Die Zwölfjährige feiert mit dem Western „Neues aus der Welt“ ein tolles Hollywood-Debüt. Und das ausgerechnet in der Pandemie.

Von Andreas Busche

Ein Mann zieht auf seinem Pferd von Kaff zu Kaff, um die Menschen in den entlegensten Regionen der Vereinigten Staaten mit Nachrichten zu versorgen. Kann man sich aktuell einen bissigeren Kommentar auf die amerikanische Informationsgesellschaft made in hollywood vorstellen? Eine tödliche Infektion hat das Land erfasst, die Nation ist gespalten, der Rassismus grassiert – wir schreiben das Jahr 1870.

Die Meningitis dezimiert die Bevölkerung, der Bürgerkrieg liegt gerade mal fünf Jahre zurück, Soldaten der Union patrouillieren durch die Städte des amerikanischen Südens, um die zivile Ordnung aufrechtzuerhalten. Und Tom Hanks, der Jimmy Stewart unter den Hollywood-Babyboomern, reitet durch das von Krieg und Krankheit gezeichnete Land, um den Fake News Einhalt zu gebieten.

Der Western bleibt – neben dem Horrorfilm – das Genre, an dem sich die amerikanische Mentalität besonders gut spiegeln lässt. Auch darum ist er wohl niemals totzukriegen. Nur der Western bietet gleichzeitig Selbstbestätigung und die kritische Reflexion eines Gründermythos: von nationaler Einheit und rassistischer Ausgrenzung, von Männlichkeit und ihrer Limitierung (schon immer waren Frauen die rationaleren Westernhelden), der Utopie von individueller Freiheit und der Einsicht, dass letztlich nur ein kleiner Teil der Gesellschaft davon profitiert.

Jede Generation erfindet das Genre neu, ohne sich ganz der Tradition verschließen zu können. Paul Greengrass knüpft mit „Neues aus der Welt“ an diesen Bilderfundus an, will aber auch von einem Trauma erzählen.

Helena sammelt gerade Nominierungen

Für diese Geschichte, die auf einem Roman der US-Autorin Paulette Jiles basiert, hat er eine außergewöhnliche Mitstreiterin gefunden. Neben Tom Hanks sitzt auf dem Kutschbock die zwölfjährige Helena Zengel in ihrer ersten Hollywood-Rolle. Und sie stiehlt ihrem Ko-Star, von dem sie vor den Dreharbeiten noch nie gehört hatte, gerade die Show.

Vergangene Woche wurde Helena Zengel als Nebendarstellerin für den Golden Globe nominiert, im Moment scheint sie Nominierungen zu sammeln: Beim amerikanischen Kritikerverband und der Schauspielgewerkschaft steht ihr Name ebenfalls hoch im Kurs.

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Wie erzählt man von diesem widersprüchlichen Land, ohne dessen Geschichte zu relativieren? Der Brite Greengrass war schon immer ein politischer Filmemacher, vielleicht sogar der einzige politische Action-Regisseur, den sich Hollywood leisten will. Doch es ist Zengel, die in „Neues aus der Welt“ den zentralen Satz ausspricht: „Um nach vorne zu blicken, muss man sich erst erinnern.“

Erfahrung mit traumatisierten Figuren

Der Zeitungsmann und Konföderiertenveteran Captain Kidd, der das Mädchen am Tatort eines Lynchmordes aufliest, versteht den Satz nicht. Johanna, diesen Namen findet der Captain in der Geburtsurkunde, spricht die Sprache der Kiowa. Die Indigenen haben die Eltern des Mädchens, deutsche Migranten, getötet, bevor ihr Volk von Weißen massakriert wurde. Johanna verkörpert die amerikanische Gewaltgeschichte. „Sie ist ein zweifacher Waise“, sagt die Herbergsmutter Mrs. Gannett (Elizabeth Marvel) einmal über das Findelkind.

Helena Zengel hat mit ihren zwölf Jahren schon Erfahrung mit traumatisierten Figuren gesammelt. Johanna ist gar nicht so weit weg von ihrem Systemsprenger Benni aus Nora Fingscheidts gleichnamigem Film. Bemerkenswert an „Neues aus der Welt“ ist, über wie viel Ausdrucksvermögen Zengel in ihrem Alter verfügt. Dominierte sie „Systemsprenger“ vor allem mit ihrer chaotischen Energie, verstärkt durch eine hektische Kamera, wirkt sie an der Seite des stoischen Hanks eher wie ein trotziger kleiner Buddha, der es an Lebenserfahrung locker mit dem Erwachsenen aufnehmen kann.

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Zengel verweigert sich mit ihren stechenden blauen Augen dem Kindchen-Schema, für das junge Darsteller*innen in ihren ersten großen Rollen oft herhalten müssen. Die abgebrühte Johanna steht dagegen in der Tradition schießfreudiger Westernheldinnen wie Barbara Stanwyck, Jane Fonda, Cate Blanchett – und nicht zu vergessen einer Hailee Steinfeld, die in „True Grit“ von den Coens gerade mal zwei Jahre älter war als Zengel. Johanna versorgt „Captain“, wie sie ihren väterlichen Beschützer nennt, mit praktischen Lebensweisheiten und – wenn es drauf ankommt – auch mit Munition.

Ganzheitlicher Ansatz für den Heilungsprozess

So lässt sich darüber hinwegsehen, dass Johanna ursprünglich wohl eher als Projektionsfläche für den gebrochenen Kriegshelden geschrieben war. Kidd hat seine Existenz und seine Frau im Krieg verloren; die Gewalt ist in die versehrte Landschaft, die er und das Mädchen durchreiten, eingeschrieben. Auf ihrer Reise treffen sie unter anderem auf einen wahnsinnigen Despoten, der im hintersten Texas sein kleines, abgeschirmtes Imperium errichtet hat.

Kidd bringt den Hinterwäldlern Nachrichten aus der weiten Welt, er stiftet unter ihnen damit einen Aufruhr an. (Eine schöne Vorstellung: In der Realität sorgen alternative Fakten für einen Sturm auf die Demokratie.) Am Ende aber ist doch das Gewehr die letzte Rechtsinstanz; den Abzug betätigt – Johanna.

Für einen kinetischen Regisseur wie Greengrass, der mit den „Bourne“-Filmen das Actionkino revolutionierte, fällt „Neues aus der Welt“ nüchtern, fast resignativ aus. Sein Western ist ein überaus langsames Stationendrama, wenn auch mit einer virtuos inszenierten Schießerei. Doch die Marschrichtung, die der alternde Westernheld vorgibt – immer geradeaus, dem Vergessen entgegen – führt wiederholt in den Hinterhalt. Der Kreislauf, die Einheit von Himmel und Erde, beziehungsweise von Zukunft und Vergangenheit, das hat Johanna bei den Kiowa gelernt, ist der ganzheitlichere Ansatz für den nationalen Heilungsprozess.

Dass solche Lebensweisheiten nie altklug wirken, hat viel mit Zengels natürlicher Präsenz zu tun – eventuell auch damit, dass die Zwölfjährige, im Gegensatz zu Hanks, schon mal auf einem Pferd gesessen hat. Man wird sie bald noch häufiger im Kino sehen. Umso betrüblicher, dass Helena Zengels Hollywood-Debüt auf einem Streamingportal stattfindet. (Auf Netflix)

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