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Berlin Mitte Gendarmenmarkt mit Deutschem Dom, Konzerthaus, einst Schauspielhaus genannt, und Französischem Dom.

© Mike Wolff

Konzerthaus am Gendarmenmarkt feiert 200. Geburtstag: Niemand will erinnert werden, jeder will das Neue sehen

Berlin ist eine Stadt, die nie in ihrem Gestern ausruht, sondern immer Neues will. Das war schon so, als das Nationaltheater mit Goethes Worten eröffnet wurde.

Als das Nationaltheater am Gendarmenmarkt im Jahre 1821 im revolutionären Neubau Schinkels eröffnet wurde, da stand es symbolisch für das geistig hellste Jahrzehnt, das Preußen je erlebte. Als das Theater 1921 hundert Jahre alt wurde, da begannen die „Goldenen Zwanziger“, das kühnste und krasseste Jahrzehnt, von dem Deutschland je durchgerüttelt wurde.

Nun, da das Konzerthaus am Gendarmenmarkt seinen 200. Geburtstag feiert, können wir noch nicht erahnen, was für neue Zwanziger Jahre der Berliner Geschichte damit eingeläutet werden. Aber wir können uns etwas wünschen.

Denn auch wenn wir heute einen großen runden Geburtstag feiern, wenn wir scheinbar die Tradition beschwören, dann müssen wir uns eingestehen: In dieser Stadt und an diesem Ort war es immer nur das Neue, das gefeiert wurde.

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Traditionslosigkeit ist die einzige Tradition, die in Berlin wirklich hochgehalten wird. Niemand will erinnert werden, jeder will das Neue sehen. Als in der Nacht zum 26. Mai 1821 plötzlich der turmhohe Bauzaun am Gendarmenmarkt verschwand, da begannen die Menschen zu staunen angesichts der neuartigen Schönheit des Tempelbaus, den Karl Friedrich Schinkel errichtet hatte.

Von Goethe bis Gründgens

Und sie staunten über die Worte Goethes, mit denen dieses Haus eröffnet wurde – auch wenn diese Verse mit ihrer Obsession für den erzwungenen Endreim aus unserer heutigen Sicht nicht wie ein Hauptwerk der Weimarer Klassik wirken ... Aber damals war Goethe eben noch Gegenwartsliteratur.

Genauso wie später Richard Wagner, der hier den „Fliegenden Holländer“ dirigierte, als zeitgenössische Musik, oder Marlene Dietrich, die hier in aktuellen Bühnenstücken die träge Eleganz zu einer deutschen Eigenschaft zu machen versuchte.

Vor der Tür stand da schon, aufrecht und gar nicht träge, Friedrich Schiller auf seinem prächtigen Sockel – und er stand da auch, als in den dreißiger Jahren Gustaf Gründgens hier erst den „Mephisto“ in die Gegenwart holte und dann – in seiner Intendanz als Teufels General – dieses Theater zu einem Symbol der Ambiguitäten der frühen dreißiger Jahre machte: Gründgens war im nationalsozialistischen Staat ein gefallsüchtiger Karrierist und preußischer Staatsrat und zugleich ermöglichte ihm genau seine Regimetreue, jüdischen Schauspielern und Schauspielerinnen einen temporären Schutzraum zu geben.

Gründgens „Hamlet“ von 1936 wiederum sollte jenes Stück werden, das in dem jugendlichen Marcel Reich-Ranicki vor seiner Verbannung ins Warschauer Ghetto den unverbrüchlichen Glauben an die Widerstandsfähigkeit des Geistes erwachsen ließ.

Dieser Tempel Apollos, errichtet von König Friedrich Wilhelm III. und geliebt von seiner Frau, der Königin Luise, ging dann gleichzeitig mit jenem Staat zugrunde, in dessen leuchtendster Zeit er das Licht der Welt erblickte und dessen erstes Parlament nach der Revolution von 1848 genau hier tagte: also mit Preußen. Jener Staat, der 1945 versank, als nicht die Bomben der Alliierten, sondern das von der Waffen SS gelegte Feuer Schinkels Schauspielhaus zerstörte.

Ein von der DDR rekonstruierter Schinkel-Bau

Es gab wohl kaum einen Anlass, zu dem Johannes R. Bechers „Auferstanden aus Ruinen“ besser gepasst hätte als die Eröffnung des von der DDR rekonstruierten Schinkel-Baus im Jahre 1984. Fünf Jahre später dirigierte hier, die Mauer war gefallen, Leonard Bernstein an Weihnachten 1989 Beethovens „Ode an die Freude“ als Ode an die Freiheit – und Schiller draußen lächelte dankbar und stolz.

Schon ein Jahr später, also 1990, wurde dann genau hier erneut ein Staat zu Grabe getragen: Diesmal die DDR, die feierliche Dekonstruktion eines Staates in ebenjenem Haus, das ihr größtes Rekonstruktionsprojekt gewesen war. Der Gott der Geschichte hat Humor. Wir wissen, wie wichtig die aktive Trauerarbeit ist, um Vergangenes bewältigen zu können.

[Auch auf tagesspiegel.de: Endlich wieder Museum! – Diese Schau ist der perfekte Einstieg in den Kunstgenuss]

Wir wissen auch, dass in Berlin Trauerarbeit eigentlich immer nur darin besteht, zu vergessen, zu verdrängen, nach vorn zu schauen, „weiterzurattern“, wie Klaus Mann das einmal formuliert hat. Der Status Quo ist in Berlin immer ein fragwürdiger Zustand.

Darum sind Dauerbaustellen auch Berlins wichtigster Beitrag zur Architekturgeschichte. Dauerbaustellen haben den Vorteil, dass man dadurch sehr lange in dem Irrglauben leben darf, dass das, was da kommt, besser sein könnte als das, was dafür ging.

Lothar de Maizière über die fünfte deutsche Staatsform

Lothar de Maizière hat bei der Verabschiedung der DDR am 2. Oktober 1990 Worte über die fünfte deutsche Staatsform gesprochen, die Schinkels Bau da gerade überlebt hatte. Er sagte: „Wir wissen sehr wohl, was die Vergangenheit uns angetan hat. Wir wollen sie hinter uns lassen. Wir wollen die Vergangenheit nicht verdrängen. Aber sie darf auch nicht noch unsere Zukunft teilen“.

Lothar de Maiziere, ehemaliger CDU-Politiker
Lothar de Maiziere, ehemaliger CDU-Politiker

© Mike Wolff/TSP

Er hat damit unbewusst so etwas wie das Ceterum Censeo der Berliner Geschichtsauffassung formuliert: Die Vergangenheit hinter sich lassen, um nach vorneschauen zu können. Aber in dem Wunsch, dass die Vergangenheit nicht die Zukunft bestimmen soll, hat er eben jenseits seiner subjektiven Blickrichtung auch die Geisteshaltung einer ganzen Stadt beschrieben.

Ich möchte gerne heute, dreißig Jahre später, zum Geburtstag des Konzerthauses am Gendarmenmarkt den genau entgegengesetzten Wunsch äußern, denn wir wissen leider nicht mehr, was die Vergangenheit uns geschenkt hat. Wir sollten sie daher endlich einmal nicht mehr hinter uns lassen wollen. Sondern wir sollten die Vergangenheit in unsere Gegenwart lassen, damit sie endlich auch unsere Zukunft bestimmt. Gibt es eigentlich einen besseren Ort dafür als diesen?

Konzerthausorchester dirigiert von Christoph Eschenbach

Jenes Haus, in dem Preußen aufblühte und verging. Dessen geistigen Grundstein Goethe legte, worüber dann Alexander von Humboldt, Richard Wagner, Theodor Fontane, Marlene Dietrich, Gustaf Gründgens und das Konzerthausorchester ein Haus der Kultur bauten, der Literatur, des Theaters und der Musik und des Gedenkens, in dem es viele Wohnungen gibt.

Und in dem heute Christoph Eschenbach das Konzerthausorchester dirigiert, gerade weil sich, wie er sagt, die Geschichte Berlins mit ihren Höhen und Tiefen hier so widerspiegelt wie nirgendwo sonst.

Dirigent Christoph Eschenbach
Dirigent Christoph Eschenbach

© promo/Brissaud/DSO

Es ist der Ort, an dem die DDR verabschiedet wurde und die Alliierten aus Berlin, ein Haus an dem vor vier Wochen in einem Staatsakt der Toten der Corona-Pandemie gedacht wurde. Gibt es eigentlich neben dem Reichstag und seiner symbolischen Rolle für die Demokratiegeschichte ein Haus, an dem sich deutsche Historie verdichteter erleben ließe als hier?

Das Konzerthaus am Gendarmenmarkt sollte nicht der zentrale Erinnerungsort der Berliner und Berlinerinnen und der deutschen Mentalitätsgeschichte werden – er ist es längst.

Berlins ewige Besessenheit vom Jetzt

Karl Scheffler hat in seiner messerscharfen Analyse Berlins von dem fatalen Schicksal dieser Stadt gesprochen, dem sie bislang nicht entkommen konnte. Dass also ihre Traditionslosigkeit die Voraussetzung ist für ihre ewige Besessenheit vom Jetzt. In seinen Worten: „Nirgends kennt man Goethe so schlecht und die Dichter der letzten Saison so gut. Alles gilt für den Tag“. Das hat er vor hundert Jahren geschrieben, und es gilt genauso für heute.

Das historische Bewusstsein Berlins aus westlicher Perspektive beginnt mit der Ankunft David Bowies in Schöneberg und für die ganz Geschichtsbewussten mit den Neubauten am Roseneck und den Rosinenbombern.

[Mehr zum Thema: Luftbrückenpilot Gail Halvorsen wird 100 – „In meinem Herzen gibt es einen besonderen Platz für die Berliner“ (T+)]. 

Aus östlicher Perspektive beginnt die Vergangenheit mit dem Bau des Fernsehturms und seinem erlösenden Modernitätsversprechen. Für alles, was davor geschah, gibt es eine geradezu panische Kontaktbeschränkung.

Ich möchte sie einladen zu Risikobegegnungen mit der Vergangenheit – es gibt keinen besseren Ort als diesen, an dem sich zweihundert Jahre lang immer wieder auf einzigartige und symbolische Weise Gegenwart ereignete – in ihrer widersprüchlichsten Form.

Autorinnen und Autoren im Zeugenstand

Ich möchte drei Autorinnen und Autoren in den Zeugenstand rufen, die in den 1820er und 1920er Jahren das Berlin-Bild entscheidend geprägt haben – und die alle drei sehr oft Gast im Zuschauerraum dieses Hauses waren.

So hat Rahel Varnhagen von Ense vor zweihundert Jahren erkannt, „daß die Zukunft uns nicht entgegen kommt, nicht vor uns liegt, sondern von hinten über unser Haupt strömt, daher sind wir ihr so ausgeliefert“.

Rahel Varnhagen von Ense, geborene Rahel Levin, Appelee Rahel Robert oder Robert-Tornow (1771-1833)
Rahel Varnhagen von Ense, geborene Rahel Levin, Appelee Rahel Robert oder Robert-Tornow (1771-1833)

© imago/Leemage

Aber wir müssen uns ihr nur auch endlich ausliefern wollen, wir müssen, wenn wir später nach Hause gehen, die Schusslöcher des Zweiten Weltkrieges auch sehen wollen an all den alten Gebäuden rund um den Gendarmenmarkt. Diese Schusslöcher stammen aus den Tagen, als Schinkels erstes Tempelgebäude am Gendarmenmarkt gerade in dem von der Waffen SS gelegten Feuer versank.

Die zweite Kronzeugin, die ich anrufen will für meinen Wunsch nach einer neuen Berliner Erinnerungskultur, ist Mascha Kaleko. Die große jüdische Dichterin, die in den dreißiger Jahren emigrieren musste und nach ihrer Rückkehr in den 1950er Jahren, beim Spazieren durch jene Straßen, die nunmehr plötzlich Ost-Berlin hießen, diese bezwingenden Verse dichtete: „In mir, dem Fremdling, lebt das alte Bild / der Stadt, die so viel Tausende vergaßen. / Ich wandle wie durch einen Traum / durch dieser Landschaft Zeit und Raum. / Und mir wird so ich-weiß-nicht-wie / vor Heimweh nach den temps perdus...“

Die Lyrikern Mascha Kaleko (undatiertes Archivfoto) hat ihrem Schriftstellerkollegen Mehring vermutlich das Leben gerettet.
Die Lyrikern Mascha Kaleko (undatiertes Archivfoto) hat ihrem Schriftstellerkollegen Mehring vermutlich das Leben gerettet.

© picture-alliance/dpa

Das alte Bild der Stadt, das so viel Tausende vergaßen – das ist das Alzheimer-Syndrom, das in Berlin seit 200 Jahren vererbt wird. Es gibt keinen besseren Ort als das Konzerthaus am Gendarmenmarkt mit seiner einzigartigen Geschichte, um zu versuchen, dieses Erbgut zu verändern.

Eine Stadt, die nie in ihrem Gestern ausruht

Franz Hessel, der mit seinem Buch „Spazieren in Berlin“ die dauernde Bewegung zum Charakteristikum der Stadt erklärt hat, erkannte, worin dabei die große Herausforderung liegt: „Es ist gar nicht so leicht, das Ansehen und das Bewohnen bei einer Stadt, die immerzu unterwegs, immer im Begriff ist, anders zu werden und nie in ihrem Gestern ausruht.“

Eine Stadt, die nie in ihrem Gestern ausruht – genau das ist die geistige Dauerbaustelle Berlin seit zweihundert Jahren. Und wenn wir heute einen Wunsch an morgen richten dürfen, dann genau diesen: Dass Berlin und das ganze Land begreifen, dass wir hier, im Konzerthaus am Gendarmenmarkt, den perfekten Ort haben, um im Gestern auszuruhen. Um aus der Geschichte, von ihren Dichtern und Dichterinnen, ihren Fundamenten, ihren Schusslöchern und ihren Zerrissenheiten zu lernen. Und um nach dem Ruhen im Gestern für das Morgen wacher zu sein – nicht trotz, sondern wegen der Vergangenheit.

Florian Illies

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